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Wagners Kunstgriff

20.05.2005
Wollte ein Ritter einer Dame huldigen, so hatte er das in Gestalt des Minnesangs zu tun. Mit der Entstehung und der zunehmenden Autonomie des Stadtbürgertums entstanden im ausgehenden Mittelalter auch jenseits der höfischen Kultur Dichtungsformen, die einen künstlerischen Anspruch erhoben. Im Meistersang zum Beispiel, einer seit etwa 1350 nachgewiesenen ständischen Dichtung, feierte das zünftige Stadtgemeinwesen sich selbst. Er wurde Ausdruck eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins und von Richard Wagner als Folie für eine Diskussion verwendet, die er auf der Bühne der Oper exemplarisch führte. Denn seine “Meistersinger von Nürnberg” handeln zwar auch von der Liebe, vor allem aber von der Freiheit der Kunst.
Wagner hatte die Geschichte genau studiert und in seine Welt übertragen. Historisch gesehen zerfiel der Meistersang in zwei Phasen: die Zeit der Nachahmung von etwa 1350 bis 1480, gerahmt von den Gestalten Frauenlob der ursprünglich Mainzer Szene und Hans Folz, dem ersten Nürnberger Dichter von Format. Bevor letzterer in einem genialischen Schritt verkündete, dass nur der Meister werden könne, der einen neuen Ton (= Lied und Text) vortrage, galt die Regel, nach Art der 12 Ahnherren (wie Walter von der Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach) vorzugehen. Folzens Meistersangreform führt zu einer neuen Blüte des Genres an der Schwelle zur Neuzeit, die vor allem mit der Person von Hans Sachs verbunden war. Nach dessen Tod 1576 ging es jedoch bergab mit der zünftischen Dichtung, nur in einigen Städten wurden noch bis ins 19.Jahrhundert Meistersangtraditionen gepflegt (wie etwa in Memmingen bis 1875). Richard Wagner jedenfalls interessierte sich vor allem für eine Grundkonstellation, die er am Beispiel seiner Oper demonstrieren wollte. Die Handlung spielt in Nürnberg zu Zeiten von Hans Sachs. Der junge Ritter Walther von Storzing verliebt sich in die Handwerkertochter Eva, die dem versprochen ist, der den Sängerwettbewerb gewinnt. Der Adelige bewirbt sich mit einem stürmischen Lied um die Aufnahme in den Kreis der Meistersinger, fällt jedoch im ersten Ablauf durch.

Der einzige, der Walthers Talent erkennt, ist Sachs persönlich. Er beschließt, dem Paar zu helfen, unterweist den Brautwerber in der Kunst des Meistersangs und schreibt ihm ein Lied, das allerdings von dessen Widersacher Beckmesser entwendet wird. Beim finalen Sängerstreit jedoch scheitert der Dieb kläglich und Walther triumphiert mit einer emphatischen Interpretation. Und die Moral von der Geschicht'? Kunst wird dann zu Kunst, wenn sie durch die Tradition hindurch individuell zu wirken versteht. Und das war auch eine Maxime, nach der Sir George Solti sich an die berühmte Wagner-Oper wagte. Die im Rahmen der Serie Classic Opera wieder veröffentlichte legendäre Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern entstand im Oktober 1975 im Wiener Sofiensaal und zählt noch heute zu den Referenzmitschnitten der “Meistersinger”. Denn Solti schaffte es nicht nur, aus dem großartigen Orchester einen immens farbenreichen Klangkörper zu formen, der auf jeden kleinsten Fingerzeit vom Pult zu reagieren vermochte. Er hatte darüber hinaus auch brillante Solisten zur Verfügung, die mit Witz und Charakter Wagners amüsanteste Oper umzusetzen verstanden. Den weisen Sachs sang Norman Bailey, der Ritter Walther ein inspirierter René Kollo. Eva wurde von Hannelore Bode dargestellt und die burleske Rolle Beckmessers meisterte Bernd Weikl mit Bravour. So entstand eine Aufnahme, die vor Energie nur so sprüht und dokumentiert, warum Solti einmal mehr zu den wichtigsten Dirigenten des vergangenen Jahrhunderts gezählt werden muss.
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