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Verschwörung des Fiesco

12.10.2005
Es waren bewegte Zeiten in Europa. Nachdem im Anschluss an die Revolutionsbewegungen der Aufklärung der restaurative Geist in Gestalt des Wiener Kongresses und dessen Bestimmungen gewaltsam regierte, kam es in verschiedenen Wellen zu Aufständen und verstecktem Widerstand gegen die Feudalherrschaft. Giuseppe Verdi (1813–1901) hatte spätestens im Anschluss an die überraschend national geprägte Deutung von “Nabucco” (1842) Farbe bekannt und sich zum moderaten Kämpfer der nationalen Sache erklärt. So entstanden neben den berühmten Opern auch Werke wie Simon Boccanegra, die einen deutlichen, wenn auch historisch in der Vergangenheit verankerten politischen Hintergrund hatten.
Seit dem Hochmittelalter waren Genua und Venedig Konkurrenten. Beide Seemächte im Mittelmeer, beide agile Handelsstädte, war es unvermeidlich, dass sie sich regelmäßig in die Quere kamen. Was sie allerdings einte, war der Widerstand gegen die politischen Einflussnahmen sowohl durch den deutschen Kaiser wie auch durch das römischen Papsttum. Genua und Venedig verstanden sich als unabhängig und so waren sie ausgezeichnete Ausgangspunkte für eine stellvertretende Auseinandersetzung mit politischen Fragen, die im Italien des 19. Jahrhunderts bis zum Risorgimento nur in verschlüsselter Form geführt werden konnte. Als an Giuseppe Verdi nach der “Sizilianischen Vesper” 1855 ein weiteres Opernprojekt herangetragen wurde, entschied der sich daher für ein behutsam kritisches Libretto, dass seine beiden Autoren Francesco Maria Piave und Arrigo Boito aus einer Vorlage von Antinoi Garcia Gutiérrez destilliert hatten. Der Stoff war durchaus komplex und erscheint aus heutiger Perspektive verwirrend. Das italienische Publikum während der Uraufführung in Venedig 1857 jedoch dürfte die Anspielungen mühelos verstanden und im Sinne des Zeitgeistes gedeutet haben.

Im Kern geht es in Simon Boccanegra um den Konflikt zwischen dem adeligen Fiesco und dem an die Macht gekommenen Titelhelden und Korsar nichtaristokratischer Herkunft. Dabei wird der Edelmann alles andere als positiv gezeichnet. Er ist der Unsympath, der während des Vorspiels der Oper lieber den Tod seiner Tochter Maria in Kauf nimmt, als ihrer Liaison mit Simon, dem Vertreter eines niederen Standes zuzustimmen. Dann allerdings wird während der eigentlichen, ein Menschenalter später spielenden Handlung, der zunächst als positiv gezeichnete Anführer der genueser Volkspartei Paolo zum Verräter, der den inzwischen zum altehrwüdigen Dogen avancierten Simon vergiftet und deshalb selbst zu Tode kommt. Die Geschichte endet schließlich in der Übergabe der Macht an Marias und Simons Tochter Amalia und dessen jungadeligen Geliebten Gabriele, also dem Generationenwechsel zugunsten derer, die mit dem alten Filz nichts oder nur wenig zu tun haben.

Für Verdi war Simon Boccanegra eine Oper des Übergangs, die von den erfolgreichen Werken der frühen Jahre von “Nabucco” bis “La Traviata” in die nächste Phase führte, die für ihn noch nicht abzusehen war, aber aus der Retrospektive gesehen in die Hochzeit von “Aida” bis zum “Falstaff” mündete. Aufgrund ihrer ein wenig verworrenen Geschichte ist sie eines der seltener gespielten Werke des Komponisten, auch wenn das musikalische Material dem der Erfolgsopern um nichts nachsteht. Ende der 1980er Jahre gehörte sie jedoch zum Spielplan der Mailänder Scala und bei einer dieser Gelegenheiten wurde sie auch von der Decca aufgenommen und ist nun in der Reihe Classic Opera wieder erhältlich. Die Besetzung war beachtlich. In der Titelrolle konnte man den Bariton Leo Nucci erleben, seine Tochter Maria/Amalia sang die Sopranistin Kiri Te Kanawa. Den umtriebigen Fiesco übernahm der Bass Paata Burchuladze, den Verschwörer Paolo der Bariton Paolo Coni und den Liebhaber Amalias der Tenor Giacomo Aragall. Besondere Bedeutung kam diesen Aufführungen vor allem deshalb zu, weil am Pult des Orchesters der Scala kein geringer als Sir Georg Solti sich die Ehre gab. So entstand ein ausgezeichnetes Dokument einer selten gespielten, mittleren Oper Verdis, die durch die symbiotische Energie aller Beteiligten zu einem fesselnden Hörerlebnis wurde.
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