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Oper und Fiktion

18.01.2006
Der Reiz eines Opernfilms besteht gerade darin, die Vorzüge beider Medien so zu verbinden, dass ihre Besonderheiten erhalten bleiben. Dabei gibt es keine eindeutigen Vorgaben, denn es bleibt im Ermessen des jeweiligen Regisseurs und künstlerischen Leiters eines Projektes, wie viel an Inszenierung der Film und wie viel Film die Inszenierung verträgt. August Everding ging der Weg der radikalen Mitte, indem er für die Fernsehfassung von Engelbert Humperdincks Märchenoper “Hänsel und Gretel” die verschiedenen Ebenen der Betrachtung vermischte. Ein Vierteljahrhundert nach dem Experiment ist der von den Münchner Opernspezialisten der Unitel verwirklichte Film nun auch auf DVD erhältlich.
August Everding war ein umtriebiger Intendant. Wie viele andere Opernregisseure, kam auch er vom Sprechtheater und brachte die dort gesammelten Erfahrungen in die Umsetzung von gesungenen Texten in besonderer Weise ein. Sein Thema war die Tradition, zu der er sich mit seinen Arbeiten in unterschiedlich intensiver Form in Beziehung setzte, mal mehr in ihr ruhend, mal weniger. Während seiner Amtszeit als Intendant der Bayerischen Staatsoper in den siebziger Jahren wandte er sich auch einem der Klassiker der Opernbühne zu, der seit der Uraufführung in Weimar 1893 gemeinhin als Einstiegsdroge in die Welt des musikalischen Theaters gesehen wird: Engelbert Humperdincks “Hänsel und Gretel”. Die Inszenierung war konventionell in rustikalen Kostümen, ohne verfremdende oder relativierende Effekte. Für die Fersehversion jedoch konnte Everding etwas tiefer in die Trickkiste greifen. Zum einen waren durch das Medium der Kamera neue, im Theaterraum nicht realisierbare Räume und Übergänge möglich. Da erscheinen mit einem Mal ein von Sonnenblumen gesäumter Weg und ein Knusperhäuschen aus dem Nichts, da kann sich eine Hexe mit ein paar Schnitten von der netten alten Dame in eine fratzenhaft dämonische Gestalt verwandeln, ohne das die Requisite oder Maske zaubern können muss. Da werden auch ungewohnte Ebenen der Relativierung eingeführt, so wie etwa der nur mit Kindern besetzte, zwischenzeitlich eingeblendete Wiener Sophiensaal, der wie ein Kunstraum erscheint und als Verweis auf das Bühnenhafte eine eigene Funktion bekommt.

Vieles konnte man auf diese Weise verändern und angleichen. Die Musik und die Sänger hingegen waren fixe Größen, an denen sich wenig modifizieren ließ. Insofern bewies Everding wiederum ein gutes Händchen, denn sowohl sein Dirigent als auch seine Schauspieler hatten genügend Chuzpe, um aus dem wohl bekannten Stück ein künstlerisches Erlebnis zu machen. Sir George Solti zum Beispiel leitete die Wiener Philharmoniker mit strenger, sicherer und faszinierend ausdrucksstarker Hand. Die beiden Titelrollen waren mit Brigitte Fassbaender (Hänsel) und Edita Gruberova (Gretel) mit erfahrenen Stimmen besetzt, die dem unbeschwerten Stoff zur nötigen Portion Seriosität verhalfen. Im Falle des Vaters der Kinder war sogar ein Vollblutmime am Werk. Hermann Prey konnte seine komödiantischen und dramatischen Fähigkeiten ausspielen und erzählte etwa derart überzeugend von den Missetaten der bösen Hexe, dass man selbst vor dem Fernseher noch das Gruseln bekommen könnte. Ergänzt um Helga Dernesch (Mutter) und Sena Jurinac (Hexe) hatte Everding ein Team am Start, das voller Begeisterung und Kompetenz das oft als Kinderoper abqualifizierte “Hänsel und Gretel” auf ein hohes Niveau brachte und somit die Fahne der Oper gegenüber den vielen filmischen Möglichkeiten hochhielt. So ist ein Klassiker des Opernfilms entstanden, der aus der tricktechnischen Perspektive der Gegenwart ein wenig anachronistisch erscheinen mag. Das ändert jedoch nichts daran, dass Sänger wie Musiker wie Kameraleute wie Cutter Höchstleistungen vollbringen, um dem klingenden Märchen die bestmögliche Form zu geben.
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