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Traumfänger: Andrea Bocellis Verdi-Album

14.02.2001
Manche begnügen sich ein Leben lang, schöne Träume zu spinnen. Andrea Bocelli macht seine wahr.
Als Andrea Bocelli vor wenigen Wochen erstmals als Buchautor an die Öffentlichkeit trat, waren natürlich die Spötter in den Startlöchern. Was sollte man von einer weiteren Autobiografie eines Startenors – denn nichts anderes konnte ja “La mia musica” sein – schon erwarten? Aber siehe da, Bocellis Erzählung vom kleinen Jungen Amos hatte etwas Romanhaftes an sich, das es auch den Berufsskeptikern schwer machte, das Buch aus der Hand zu legen. Nicht die Aufzählung von Sensationen einer durchaus verblüffenden Karriere ist das Thema, sondern die spannende Geschichte eines kleinen Jungen, der sich selbst und der Welt immer wieder aufs Neue seinen Wert und seine Fähigkeiten beweisen muss. Andrea, der vielleicht doch manches mit Amos gemein hat, hat jetzt ein weiteres Stück eines alten Traums umgesetzt: Er veröffentlicht eine CD, die ausschließlich den großen Arien Giuseppe Verdis gewidmet ist.
 
Seit Bocelli die großen italienischen Tenöre im Rundfunk hörte, träumte er davon, selbst auf der Bühne zu stehen und die leidenschaftlichen Arien der großen Tenorrollen zu verkörpern. Denn obwohl seine Eltern keine Opern mochten, begann der dreijährige Andrea die großen Tenöre nachzuahmen, sobald er Arien im Radio hörte. Er war fasziniert von der Kunst Mario del Monacos, von Benjamino Gigli und ganz besonders schwärmte er von Franco Corelli, dessen “Thrill” auch der strenge John Steane des “Gramophone” erlag. Andrea Bocelli hörte die Arien wieder und wieder – bis er sie auswendig beherrschte. Und er lernte schon bald, wie es ging, ein Publikum – und wenn es noch so reserviert war – in eine andere, für seine Hörer bisher unbekannte Welt zu entführen. Denn natürlich hänselten ihn die Teenager-Schulkameraden für seine Puccini-Schwärmerei und seine Verdi-Heldenarien. Trotzdem baten sie: “Sing für uns”, und Bocelli sang. Er sang für die Schulfreunde und auf Gesangswettbewerben – und gewann sie. Immer aber stand fest, dass Liebhaberei und Beruf zweierlei waren: Er absolvierte sein Jurastudium an der Universität von Pisa, während er abends als Barsänger mit Sinatra-Songs und Chansons von Aznavour und der Piaf jobbte. Andrea Bocelli, der Grenzgänger aus Not, aber mit Passion.
 
Anders wurde das durch Andreas Idol, Franco Corelli. Bei Meisterkursen in Turin sang Bocelli ihm vor – aus seiner Lieblingsoper Puccinis “La bohème”, die er, ein zweiter realisierter Traum, gerade erst mit Zubin Mehta für CD eingespielt hat. Franco Corelli war begeistert von der natürlichen Schönheit und essentiellen Kraft, die Bocellis Stimme so sehr von allen anderen abhebt. Bocelli erhielt Privatstunden bei Corelli und plötzlich erschien die Sängerkarriere gar nicht mehr so unwahrscheinlich – die Juristenlaufbahn hingegen nahm ein jähes Ende. Mit seinen ersten Klassik-CDs “Viaggio italiano” (1995) und dem internationalen Klassik-Debüt “Aria” im Jahr 1997 verband er nicht nur eine Hommage an seine großen Vorbilder, sondern auch an die italienischen Emigranten, die der italienischen Oper in ihren neuen Heimatländern treu blieben, sie feierten – wie er es inzwischen auf seinen großen US-Tourneen selbst erlebte – und dadurch populär machten. “Aria”, eine Sammlung großer Tenorarien von Puccini, Bizet, Leoncavallo, Donizetti und Verdi wurde die erfolgreichste Klassik-Disc seit der Erfindung der Schallplatte, auf Monate zugleich Spitzenreiter in den Klassik- wie in den Pop-Charts.
 
Mittlerweile gehört Andrea Bocelli zu den international begehrtesten Stars. “Ich glaube nicht, dass man beschließen kann, Sänger zu werden. So etwas entscheidet sich von selbst, durch die Reaktion der Menschen um einen. Man kann nicht sagen: ‚Hör mir zu, ich möchte für dich singen’ Aber wenn es heißt: ‚Bitte, sing für uns’, dann ist es anders.”, sagt Andrea Bocelli mit der Inbrunst des leidenschaftlichen Sängers, der schon sang, sobald er sprechen konnte. Und Leute wie seine Schulfreunde, die ihn baten: “Sing für uns”, gibt es seit 1996 rund um die Welt. Damals landete er mit einer faszinierenden Mischung aus Oper und Pop seinen großen Welterfolg: “Con te partiró”. Seitdem spricht sein Publikum denselben Satz in allen Sprachen, rund um die Welt – Andrea Bocelli versteht sie immer und singt für sie: Mit dieser verblüffenden Natürlichkeit, die Begeisterung entfacht. “Romanza”, sein internationales Debut-Album von 1996, war der Anfang: Millionen von Musikliebhabern rund um die Welt ließen sich damals willig verführen.
 
Seine Fans wurden süchtig nach dieser schmelzenden Stimme, die noch in der Höhe kräftig und voll klingt. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Sehnsucht nach Andrea Bocellis Gesang, ein internationales Phänomen, das wohl nur ein italienischer Tenor auslösen kann. Und wer Andrea Bocelli im Konzert beobachtete, stellte fasziniert fest: Er ist als Mensch genauso spontan und berührend wie seine sagenhafte Stimme. Ihm gelingt ganz unverkrampft, was so viele versuchen – er findet seinen Weg zu den Menschen und berührt sie. Oder wie eines seiner Vorbilder, der italienische Tenor Benjamino Gigli, es formulierte: “Mein ganzes Leben lang habe ich es gefühlt, wenn eine Arie, eine Phrase, eine einzige gut gesungene Note meine Zuhörerschaft ergriffen hat und mich mit ihr eins werden ließ. Es ist das Gefühl, dass ein tiefwurzelndes Bedürfnis – das Bedürfnis des Sängers nach Verbundenheit mit seinen Hörern – Erfüllung findet.” Bocelli hat dieses Ziel schon viele Male erreicht. Seine Strategie geht mehr als auf: Man nennt ihn “Tenor der Herzen”. Verrückt dabei: Während andere sich noch über U und E streiten, hat er im Handumdrehen Liebhaber in allen Bereichen gewonnen.
 
“Oper und Pop sind zwei grundverschiedene Dinge”, stellt Andrea Bocelli fest, “aber ob eines davon dem anderen unterlegen ist, das möchte ich nicht entscheiden.” Und er hat es auch nicht nötig. Denn seine Stimme wechselt mit der größten Selbstverständlichkeit von einem Bereich in den anderen. Sie gibt der Oper den geschmeidigen, natürlichen Tonfall und dem Pop eine ungewöhnliche Fülle und Tonsicherheit. Mit seiner neuesten Veröffentlichung verfolgt Andrea Bocelli weiter seine früheste Liebe und ist überzeugt: Seine Passion für die Arien von Giuseppe Verdi ist ansteckend. Vor allem möchte er sein junges Publikum erreichen, das ihn für “Con te partiró” und “Per amore” liebt und feiert. Und er träumt davon, dass sie stattdessen – wie zu Carusos und Corellis Zeiten – seine Arie “Di quella pira” aus dem “Troubadour” trällern. “Das Problem ist doch, dass Pop und Oper heute zwei sehr unterschiedliche Sprachen geworden sind. Daher erfordern sie auch, dass man sie wie zwei ganz verschiedene Sprachen erlernt – aber das ist nicht unmöglich: Es gibt Leute, die sprechen fünf oder sechs Sprachen …”
 
Bocelli ist Feuer und Flamme für seine neue Leidenschaft: seine eigene lebenslange Liebe zur Oper mit möglichst vielen, und besonders jenen zu teilen, für die sie bisher Neuland ist. Die Arien, die er für sein Verdi-Album zusammengestellt hat, ergeben denn auch eine respektable Galerie der dramatischsten und anrührendsten Rollen aus Verdis Opern: der ägyptische Krieger Radamés in “Aida”, der leichtsinnige Herzog in “Rigoletto”, der unglückselige spanische Prinz Don Carlos, der Räuber Ernani, der aristokratische Rodolfo in “Luisa Miller”, Manrico im “Troubadour”, Schwedens tragischer König Gustav III. in “Ein Maskenball” und der unglückliche Liebhaber Alfredo in “La Traviata”.Es sind die großen Tenorarien der Operngeschichte, denn nur wenige Komponisten schrieben wie Verdi so kontinuierlich und mit dieser verschwenderischen Fülle im Ausdruck für die Tenorstimme: Passagen von inniger Zärtlichkeit und Romantik wechseln mit machtvoller Stimmrhetorik.
 
Andrea Bocelli singt die Arien mit all seinem Enthusiasmus – entfesselt durch das Glück, das zu tun, wovon er so lange träumte. “Verdi kennt man in der ganzen Welt und man liebt ihn. Seine Arien überschreiten alle nationalen Grenzen, weil sie so großartige Musik sind. Sie haben eine essentielle, durchdringende Kraft und vermitteln Überzeugungen, die zeitlos sind. Ich glaube, dass in einer Welt der Konfusion, der Sensationsgier und der ethnischen Kriege klassische Musik eine reine und ganzheitliche Medizin sein kann, die uns für eine bessere Zukunft hoffen lässt – für uns selbst und unsere Kinder.” Auch Weltstars dürfen träumen – vor allem dann, wenn sie so konsequent einen Traum nach dem anderen verwirklichen.
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