Als Herbert von Karajan im März 1966 Maurice Ravels “Boléro” mit den Berliner Philharmonikern aufnahm, konnte niemand ahnen, dass der Maestro einen Hit geschaffen hatte. Denn seitdem gehört das vom Komponisten selbst als “Étude” bezeichnete Werk zu den bekanntesten Beispielen moderner Konzertsaal- und Schallplattenkultur.
Das Gleiche gilt für Debussys “La Mer” und vor allem für Mussorgskys “Bilder einer Ausstellung”. Sie waren 1874 ursprünglich als Klaviersuite geschrieben worden. Modest Mussorgsky hatte eine Ausstellung mit Aquarellen und Zeichungen seines Landsmanns Viktor Hartmann besucht und war derart beeindruckt von den Exponaten, dass er bald darauf eine Zyklus kammermusikalischer Miniaturen als akustische Umsetzung der optischen Impressionen schuf. Das Konzept war narrativ, linear und erzählte einen fiktiven Rundgang an mehreren Gemälden vorbei, jeweils durch ein “Promenade” genanntes Intermezzo geklammert. Mussorgsky versuchte klangmalerisch die einzelnen Stimmungen der Bilder einzufangen und schuf auf diese Weise ein kontrastreiches Sammelsurium ausgezeichneter musikalischer Ideen. Das wiederum beeindruckte Maurice Ravel, der es sich zur Aufgabe machte, die Klaviereindrücke auf Orchester zu übertragen. Ein paar Veränderungen nahm er vor und gestaltete wiederum ein komplexes Ensemblewerk, das in seiner Vielschichtigkeit wesentlich komplizierter zu interpretieren ist, als es im ersten Moment erscheint.
Für Herbert von Karajan war es daher eine Herausforderung, gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern eine Referenzversion der ansprechenden, aber aufwändigen Komposition zu schaffen. Die Voraussetzungen waren gut, denn das von ihm anno 1955 von Wilhelm Furtwängler übernommene Spitzenensemble befand sich Mitte der sechziger Jahre in einer Phase immenser kollektiver Perfektion. Der Dirigent entlockte ihm daher erstaunliche Farben und eine gewaltige Dynamik, deren künstlerische Brillanz in den folgenden Jahren Maßstäbe setzte. Sowohl Mussorgskys Programmwerk als auch Ravels bis zur orgiastischen Emotionalität gesteigerter “Boléro” bekamen dadurch eine auf Schallplatte festgehaltene Form, die zum Standard nachfolgender Einspielungen wurde. Gemeinsam mit der bereits 1964 entstandenen Version von Debussys akustischem Gemälde “La Mer” bilden sie den Kern eines Verständnisses der Interpretation von impressionistischen Orchesterwerken, das bis heute die Beschäftigung mit der Klangwelt des ausgehenden 19. Jahrhunderts prägt.
Die Referenz:
“Karajans Aufnahme ist ein schöner Sonderfall der Mussorgsky-Darstellung, ästhetisch vollendet, klanglich fabelhaft. Alles in allem ist hier eine sehr wertvolle Platte enstanden, die auch aufnahmetechnisch auf hohem Niveau steht und den typisch grammophonalen Verschmelzungsklang in überzeugender Form bietet.” (I. Harden, FonoForum 12/1966)