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Karajan & Shostakovich: Russische Größe

22.02.2006
Im September dieses Jahres wäre Dimitrij Shostakovich 100 Jahre alt geworden. Zu Lebzeiten mal vom Vaterland geliebt, mal von den kommunistischen Machthabern diffamiert, versuchte er den schwierigen Weg zwischen öffentlicher Akzeptanz, ideologischer Vereinnahmung und künstlerischer Lauterkeit zu gehen. Dieser Drahtseilakt gelang nicht immer und so zog er sich während der letzten Jahre der stalinistischen Herrschaft in die innere Emigration zurück. Erst nach dem Tod des Diktators 1953 fasste er neuen kreativen Mut und wagte sich wieder ersthaft an die große Form. In dieser Phase entstand auch die 10. Sinfonie, eines seiner Hauptwerke, das in der Reihe The Originals und in der Version Herbert von Karajans von 1981 wieder erhältlich ist.
Wie sehr die Maschinerie gegen ihn arbeiten konnte, hatte Dimitrij Shostakovitch zu spüren bekommen, als dem Herrscher der kommunistischen Partei eines seiner Werke missfiel. Die Oper “Lady Macbeth von Mzensk” war zwei Jahre lang erfolgreich in Leningrad und Moskau gelaufen, bis Stalin eine der Aufführungen besuchte. Er mochte das Werk nicht, prompt erschien zwei Tage später eine Hasstirade in der Prawda auf das Werk. Vorsorglich wurde außerdem wenige Tage später Schostakowitschs Ballett “Der helle Bach” verrissen, so dass die Botschaft deutlich genug war: Mach das, was der Partei gefällt, sonst ist es vorbei mit deiner Karriere! Der Komponist jedenfalls hielt sich zunächst durch die Arbeit an seiner vierten Sinfonie über Wasser, die jedoch nach ein paar erfolglosen Proben mit den Leningrader Philharmonikern wieder in der Schublade landete. Dort blieb sie, Schostakowitsch präsentierte 1937 die linientreuere, die Größe des Kommunismus heroisierende fünfte Sinfonie. Er hatte am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, in Ungnade zu fallen, und so wurde der führende Komponist des Kommunismus' zum vorsichtigen Zeitgenossen, der sich künstlerisch zum einen in musikalische Innenwelten zurückzog, zum anderen einen Monumentalstil entwickelte, der fortan als ein adäquater Ausdruck der russischen Seele galt. Allerdings, und auch das ist ein Merkmal eines wirklichen Künstlers, verstand es Shostakovitch so zu schreiben, dass findige Zeitgenossen unter der Oberfläche ein kreatives Potential entdecken konnten, das weit über den ersten Eindruck hinaus reichte.

Und so gehörte die 10. Sinfonie, die im Todesjahr von Stalin entstand, zu den Werken, die Herbert von Karajan besonders am Herzen lagen. Zum ersten Mal dirigierte er sie im März 1959 in Berlin im Rahmen einer umfassenden und sehr durchmischten Konzertreihe, die auch Werke von Webern und Mendelssohn vorstellte. Im November 1966 entstand die ersten Aufnahme, drei Jahre später leitete er die Sinfonie bei einem Gastspiel in Moskau in Anwesenheit des Komponisten, der sich im Anschluss daran tief bewegt zeigte. “Das Orchester spielte zweihundertprozentig. Es war ein unglaubliches Ereignis”, erinnerte sich noch Jahre später der Pultkollege Mariss Jansons an diesen Abend, den er als junger Mann miterleben durfte.

Die Aufnahme in der Reihe The Originals schließlich entstand im Februar 1981 mit den Berliner Philharmonikern und dokumentiert ein Spitzenorchester und einen ebenso präsenten Dirigenten, der nach seinen Krankheitsjahren in den Siebzigern noch zu einer weiteren Ebene der Intensität gefunden hatte: “Seriös und kontrastreich ausgeformt und genial instrumentiert, ist die Zehnte ein Paradestück für Dirigenten und Orchester. Herbert von Karajan und seine Berliner geben, unterstützt durch brillante Digital-Aufnahmetechnik, ihr Bestes”, meinte der Rezensent der Fachzeitschrift Audio anlässlich der Erstveröffentlichung dieses Musikereignisses 1982. Diesem Urteil muss man bis heute nichts hinzufügen.
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