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Götterfunke

06.08.2004
Beethovens späte Sinfonien gehören zum Rätselhaftesten, was die abendländische Musikgeschichte zu bieten hat. Wie kommt jemand dazu, der selbst weitgehend, von 1819 an schließlich vollständig den akustischen Kontakt zur Außenwelt verloren hat, derart großartige und komplexe Musik zu erfinden? Für jeden Dirigenten stellt sich daher die Frage, wie man diese erstaunlichen Geniestreiche angemessen auf ein Orchester übertragen kann und in welche Deutungstradition man sich stellen will.
Karajan jedenfalls hat im Laufe seiner Karriere sehr unterschiedliche Varianten präsentiert. Zum Zeitpunkt der Aufnahme des Beethoven-Zyklus' 1961/62 hatte er sich bereits vom strengen Vorbild Furtwängler entfernt, sich einer lebhafteren Anschauung nach Art von Toscanini zugewandt und sie in seinem Sinne fortgeführt.
 
Mit seinen Sinfonien sieben und acht wagte sich Beethoven noch weiter als bisher auf unbekanntes Terrain. Hatte er etwa bei der sechsten noch vermeintliche Deutungsanweisungen für die Interpretation mitgegeben, so stand die siebte außerhalb des programmatischen Diskurses. Sie war absolute Musik, die nur für sich existierte, möglichst ohne Bezugnahme auf die Stimmungslagen von Komponist und Publikum. Schon deshalb war sie Richard Wagner besonders ans Herz gewachsen, der in ihr die “Apotheose des Tanzes” zu entdecken vermochte und ihr einen überzeitlichen Charakter bescheinigte. Entstanden war sie jedenfalls von 1809 an und hatte nicht nur das bewunderte rhythmische Fundament zu bieten, sondern auch reichlich harmonische Spannung durch die tonalen Zentren C-Dur und F-Dur, die beide weit von der Grundtonart A-Dur entfernt waren. Nicht zu vergessen, die düsteren und melancholische Stimmung des Allegrettos, die vor allem die Zeitgenossen Beethovens – allen voran Franz Schubert – faszinierte. Dieser Komplexität gegenüber wirkte die achte Sinfonie schon beinahe leicht. Auch sie wurde 1812 fertiggestellt und nur knapp zwei Monate nach der siebten im Redoutensaal der Wiener Hofburg am 27. Februar 1814 uraufgeführt.
 
Am weitesten jedoch lehnte sich Beethoven mit seiner letzten Sinfonie aus dem Fenster. Sie brauchte nicht nur am längsten von der Idee bis zur Durchführung, sondern wagte auch etwas Unerhörtes, indem sie dem letzten Satz eine Chorpassage hinzufügte. Beethovens Faszination für Schillers “Ode an die Freude” reicht bis in deren Entstehungszeit zurück, das Motiv der Verbrüderung, mehr noch, der Freude als Triebfeder allen menschlichen Handelns hatte etwas Bestechendes, Absolutes. Und so wurde die Neunte zu einem Monolith der Konzertkultur, dessen Kraft noch immer die Menschen in ihren Bann ziehen kann. Und Herbert von Karajan kam von Anfang an gut mit ihr zurecht. Seine erste Neunte dirigierte er als Generalmusikdirektor von Aachen im April 1938, kurz nachdem er sein Debüt mit den Berliner Philharmonikern gegeben hatte.
 
Die Einspielung, die er im Herbst 1947 in Wien verwirklicht hatte, wurde bereits von der Kritik mit großem Lob bedacht. Da sich allerdings bald darauf die Langspielplatte als neues Trägermedium durchsetzte, konnte Karajan sich ein weiteres Mal an die Aufnahme der neunten, wie auch der anderen beiden Sinfonien wagen. So entstanden die hochgelobten Versionen des 1961/62er Zyklus, die über mehr als ein Jahrzehnt hinweg zum Standard der Interpretation wurden, bis der Maestro sich 1977 abermals ans Werk machte. Trotzdem blieb die Einspielung aus den Sechzigern, die nun in unbestechlicher und berauschender Klangqualität für SACD bearbeitet und zugänglich gemacht wurde, für viele der Maßstab moderner Interpretation. “Den Höhepunkt der Aufnahmen bildet zweifellos die strahlende Aufführung der Neunten”, schrieb Edward Greenfield in der Zeitschrift Grammophone. “Es ist, als hätte sich Karajan von Anfang an und den ganzen Zyklus hindurch auf die abschließende Hymne an die Freude konzentriert”.
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