Man muss sich das einmal vorstellen: Eine Zeit, ganz ohne Fernsehen und Radio, ohne lupenreine Klangwiedergabe im Wohnzimmer und allseits verfügbare Kulturdenkmäler. Eine Zeit, in der man die Wahl hatte, entweder krächzende Ahnungen von Genialität aus dem Schalltrichter des Grammophons präsentiert zu bekommen oder sich selbst in den Saal eines Opernhauses zu setzen, um leibhaftig den göttlichen Stimmen der Diven zu lauschen. Diese Epoche der florierende Moderne, die während des späten 19.Jahrhunderts begann und bis in die fünfziger Jahre des folgenden Jahrhunderts hineinreichte, fasziniert nicht nur Nostalgiker und Kulturarchäologen, sondern auch Künstler, die sich bewusst mit den Grundlagen ihrer eigenen musikalischen Herkunft beschäftigen. So wendet sich etwa die amerikanische Star-Sopranistin Renée Fleming mit Neugier und reichlich Emphase dieser Ära der Unmittelbarkeit zu und widmet ihr eine aufwändige “Homage”.
Noch so manches Rätsel gilt es zu lösen. Etwa wie es die großen Sängerinnen schafften, den immensen Anforderungen eines Live-Business gerecht zu werden, das noch keine CDs oder LPs als Derivate kannte. Flemings Vermutungen sind einleuchtend: “Meine eigene Theorie ist, dass aufgrund der viel kleineren Opernhäuser auch die Orchester kleiner waren, die Tonhöhe war tiefer und der Klang der Instrumente nicht so brillant und daher weniger laut, so dass die Sänger nicht so sehr mit ihnen wetteifern mussten. Wir sind heute genötigt, in Räumen zu singen, die oft 2000 bis 4000 Menschen Platz bieten; die Norm in jener Epoche lag wahrscheinlich eher bei 1000. Ich kann mir auch vorstellen, dass die Sänger sich damals länger halten konnten, weil sie nicht so viel in der Welt herumflogen wie wir heutzutage. Man hört auch sehr deutlich auf historischen Aufnahmen, wie anders der Geschmack für Stimmen war. Im schweren italienischen Repertoire und selbst bei Wagner klangen die Stimmen strahlender, jünger und weniger schwer. Ich liebe auch den Klang des Vibratos jener Zeit – es war allgemein schneller”.
Wie vital und ungemein präsent die Diven des Fin de Siècle wirken konnten, zeigt ein Blick auf die Künstlerbiographie von Mary Garden (1874–1967), dem Star der Oper von Chicago und einer der Lieblingssängerinnen Jules Massenets. Sie war es, die die “Manon” zunächst von Paris aus bekannt machte, sie war es auch, die 1905 mit großem Beifall den “Chérubin” sang. Garden gelang es sogar, mit dem ersten Akt von Massenets “Cléopâtre” das New Yorker Publikum derart nachhaltig zu verzücken, dass noch Jahre später davon gesprochen wurde. So schrieb damals der Kritiker James Huneker enthusiasmiert über eine dieser Aufführungen, die durch die Aura und Ausstrahlung der Diva zum Erlebnis wurden: “Alles, was sie tat, war, schön auszusehen und alle verführerisch in ihren Bann zu ziehen. Bei ihrem lebendigen und doch verschleierten Blick gingen die Männer zu Boden wie Soldaten im Angesicht des Maschinengewehrs … Man kann davon ausgehen, dass sie vor einigen Jahrhunderten auf den Scheiterhaufen verbrannt worden wäre, diese bezaubernde Hexe”. Kein Wunder, dass diese Rolle auch Renée Fleming fasziniert, zumal
“J’ai versé le poison dans cette coupe d’or” (“Ich habe das Gift in diesen goldenen Becher geschüttet”) zu den Schlüsselarien des Werks gehört. Sie singt sie als Verbeugung vor der Garden und vor Massenet auf der Höhe ihrer künstlerischen Meisterschaft. (Fortsetzung folgt)
Teil1 der Serie Göttliche Stimmen mit Renée Fleming:
Göttliche StimmenTeil3 der Serie Göttliche Stimmen mit Renée Fleming:
Fleming’s FavouriteWeitere Informationen zum Album finden Sie auch auf der internationalen Künstlerseite von Renée Fleming unter
www.reneefleming.com