Mitsuko Uchida | News | Zu neuen Ufern

Zu neuen Ufern

03.10.2003
Das Klavier war für die Avantgardisten der Neuen Wiener Schule ein zweifelhaftes, weil vorbelastetes Instrument. Zum einen nahm es spätestens seit dem ausgehenden Barock eine zentrale Position in der Konzertkultur ein und hatte viele interpretatorische Vorgaben im kulturgeschichtlichen Gepäck. Andererseits war es durch seine Halbtonstimmung gestalterisch deutlich festgelegt. Grenzen überall, die von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern nur mit Vorbehalten durchbrochen wurden.
Klavier bedeutete Kampf, Krise, Stellungnahme. Wenn sich Arnold Schönberg dem Paradeinstrument bürgerlicher Salonkultur zuwandte, tat er es mit Bedacht. Die damit verbundenen Konnotationen waren immens, angefangen bei der Klarheit eines Bachs über die tändelnde Verspieltheit Mozarts und das drohende Pathos Beethovens bis zu den ironisierenden Romantizismen, den impressionistischen Relativierungen und expressionistischen Ausdrucksüberhöhungen der Folgejahre. Klavier bedeutete Ballast, aber auch Befreiung. Und deshalb markieren die wenigen Pianokompositionen Schönbergs den Wandel gestalterischer Grundsätze, wenn nicht die Umdeutung ganzer Systeme. Mit den “Drei Klavierstücken op.11” stellte der Komponist seine Idee von Atonalität der Öffentlichkeit vor, Musik, die als frei fließendes Tonmaterial sich von den Zwängen der harmonischen Formung zu lösen versuchte.
 
Das allerdings war ihm bald nicht mehr genug. In der Übergangsphase zu den seriellen Kompositionen der zwanziger Jahre schrieb er zunächst die “Sechs kleinen Klavierstücke op. 19” (1911), die wie unvollständige Motive, hingeworfene Gedanken wirken. Um 1920 herum war schließlich sein System der Zwölftontechnik soweit ausgereift, dass er mit den “Fünf Klavierstücken op. 23” und der “Suite op. 25” sie für Klavier vorstellen konnte. Nun waren es nicht mehr harmonischen Spannungsverhältnisse, sondern jeweils zwölf gleichberechtigte Töne einer Reihe, die den motivischen Grundstock einer Komposition bildeten. Sie konnten umgekehrt und gekrebst werden, konnten weich (mit ansprechenden Intervallen wie Terzen) oder hart (mit Sekunden, Tritoni etc) gewichtet werden. Das “Klavierkonzert op.42”, das unter dem Eindruck des zweiten Weltkrieges im amerikanischen Exil entstand, fasst diese Techniken mustergültig zusammen, inhaltlich, formal wie auch dramaturgisch wirkungsvoll über vier eng miteinander verknüpfte Sätze. Für die Pianistin Mitsuko Uchida ist es sogar noch mehr als nur eine gelungene Umsetzung eines theoretischen Denksystems: “Das Kompositionsjahr ist 1942, und ich bin sicher, dass der Gehalt des Werkes sich auch auf die Ereignisse der Zeit bezieht. Was auch immer Schönberg auszudrücken gemeint haben mag – Klage, Schrecken, Nostalgie, Wut, Hoffnungslosigkeit oder Antizipation von Triumph oder Aufbegehren – eines steht außer Frage: Dies ist eines der großen Klavierkonzerte des 20. Jahrhunderts”
 
Und damit diese von Schönberg geschaffenen Zusammenhänge wenigstens ansatzweise in das Klangbild einer komplexen Epoche eingefügt werden können, stellt Uchida dem Wiener Meinungsführer noch zwei Kompositionen seiner Schüler gegenüber. Anton Webern etwa hatte eine sehr ähnliche künstlerische Sozialisation hinter sich gebracht wie sein Lehrer, die ihn von der Tonalität über die freie Atonalität zur Dodekaophonie führte. Er arbeitete allerdings in der Regel athematisch und punktuell. Seine Werke orientierten sich nicht an Reihen, sondern an einzelnen Intervallen, an den Verhältnissen von Ton zu Ton und bildeten auf diesen Weise einen zentralen Anknüpfungspunkt für die seriellen Nachfolger in den Fünfzigern wie Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez.
 
Alban Berg wiederum schrieb nur sehr wenig für Klavier. Seine “Sonate op.1” entstand zwischen 1907 und 1908 noch unter den starken Eindruck Gustav Mahlers und ist daher stark den tonalen Mustern dieser Jahre verpflichtet, wenn auch sich in der Motivik bereits deutliche Anklänge an die Systeme seines Lehrers Schönberg entdecken lassen. So entsteht über eine CD-Länge hinweg ein klarer und spannender Überblick über die Wiener Ursprünge der klassischen Moderne am Beispiel des Klaviers, getragen von Uchida, dem Schönberg/Werbern/Bergschen Klang-Adlatus der Folgejahre Pierre Boulez und dem von ihm souverän geleiteten Cleveland Orchestra.
 
Die Referenz:
 
“Es ist ein Glücksfall, wie Mitsuko Uchida und Pierre Boulez Intellekt und Emotion vereinen. Die Tranzparenz des Klanges macht das analytische Hören hier zur Lust. Mitsuko Uchida entdeckt die ganz eigene Sinnlichkeit der Wiener Schule.” (M. Stenger in FonoForum 6/01)
 
Näheres zur Referenz-Reihe unter http://www.referenzaufnahmen.de