Mitsuko Uchida | News | Grenzerfahrung

Grenzerfahrung

08.02.2006
Im Jahr 1972 ging Mitsuko Uchida nach London. Für sie war es ein Befreiungsschlag von den Fesseln der Herkunft, in die sie bislang gelegt war. Denn so offen ihre Familie auf der einen Seite war, so sehr engte sie mit ihren Konventionen den kreativen Handlungsspielraum der jungen Künstlerin ein. In einem Interview mutmaßt sie gar, dass sie ohne diesen emanzipatorischen Akt wahrscheinlich gar nicht Pianistin geworden wäre – was für ein potentieller Verlust, wenn man an ihre neue Einspielung der späten Beethoven-Sonaten denkt.
Der erste Einschnitt aber erfolgte, als Mitsuko Uchida 12 Jahre alt war. Damals zog die Familie dem Ernährer hinterher, denn der Vater war im diplomatischen Dienst und arbeitete in Europa. Also verlegten sie ihren Wohnsitz nach Wien, was der Teenagerin gerade Recht war. Immerhin hatte sie bereits im Kindergartenalter ein nachhaltiges Interesse am Klavier entwickelt und war seitdem bei unterschiedlichen Lehrern in die Schule gegangen. In Wien nun war die Auswahl beachtlich und sie landete als eine der jüngsten Studentinnen an der Hochschule für Musik. Mit einigem Amüsement erinnert sie sich an diese Lehrjahre, denn in den Klassen war sie mit den verschiedensten Altersstufen konfrontiert, so dass sie mit 35jährigen zusammen unterrichtet wurde, die ihr natürlich wie Greise vorkommen mussten. Mit 14 jedenfalls spielte sie ihr erstes Solo-Recital, ganz zur Freude der Dozenten, die ihr Talent erkannten. Uchida wurde eine der Meisterschülerinnen von Richard Hauser, der ihr bald vorschlug, seine Assistentin zu werden. Sie beschäftigte sich viel mit der Wiener Klassik und Romantik und legte damit den Grundstein für ihre spätere Karriere, die gerade auf den Interpretationen von Mozart, Beethoven und Schubert aufbaute. Im Jahr 1969 gewann sie den Beethoven-Wettbewerb (!), ging daraufhin bei Wilhelm Kempf und Stefan Askenase für die höheren Weihen der Klavierkunst in die Lehre und landete schließlich 1972 in London, wo ihr das künstlerische Klima derart behagte, dass sie seitdem dort lebt.

Uchida war ehrgeizig und das musste sie auch sein, denn trotz der kunstaffinen Großstadt flogen ihr die gebratenen Tauben keineswegs in den Mund. Erst von 1982 an, als sie sich mit ihren Mozart-Programmen in der Wigmore Hall an die Öffentlichkeit wagte, war sie soweit, ausschließlich als Pianistin ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Seitdem allerdings ging es auch steil bergan in der internationalen Wertschätzung. Mozart, Beethoven, Schubert, aber auch modernere Komponisten zählen zu ihrem ständigen Repertoire. Ihre derzeit wichtigste Errungenschaft ist die Interpretation der drei späten Sonaten von Ludwig van Beethoven op. 109–111. Sie rundeten zwischen 1820 und 1822 das bereits 1795 begonnene Klavierwerk des Meisters der Dramaturgie ab und zählen bis heute zu den rätselhaft schönen und dunklen Visionen einen tauben Genies, das über die Grenzen seiner Zeit hinweg dachte. Uchida hielt sie im Mai 2005 in der Concert Hall von Snape Maltings in ihrer Interpretation fest und schuf damit einen Spannungsbogen, der die Verwandtschaften der einzelnen Kompositionen untereinander unterstreicht, ohne sie jedoch als das zentrale gemeinsame Kriterium zu verstehen.
 
Im Gegenteil, die Faszination liegt gerade im Kontrast von wieder aufgenommenen, aber schwer veränderten Motiven, in strukturellen Kontinuitäten und Brüchen, die die Eigenständigkeit bei aller Verwandtschaft betonen. “Man sollte diese drei Sonaten wohl nicht als eine geschlossene Einheit ansehen”, meint sie selbst und ergänzt: “doch wenn man sie zusammen spielt, geschieht etwas Außerordentliches und Mysteriöses mit der Musik. Zusammen repräsentierten sie eine lange Reise. Die in Schweigen endet”. Und damit reichen der Komponist auf der einen Seite und die Interpretin auf der anderen an eine Sphäre heran, in der sich Musik der Erklärbarkeit entzieht. In der man nur noch hören kann.