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Shakespeare, russisch

21.02.2003
Eigentlich wollte Sergei Prokofiev seinen Romeo am Leben lassen, aus choreographischen Gründen, denn ein Toter tanzt nicht mehr. Dann entschied er sich doch anders und hielt sich an die Shakespearesche Vorlage. Dem Erfolg seines Ballettes stand der traurige Schluss jedenfalls nicht im Wege. “Romeo und Julia” wurde eines der bekanntesten Werke des russischen Komponisten.
Die Kulturauguren zu Beginn des 20.Jahrhunderts hatten das Verschwinden des Balletts aus den Spielplänen vorausgesagt. In einer Zeit, da aus den bewegten Bildern der Lumières spektakuläre Tonfilme geworden waren, galt der szenische Tanz auf der Bühne als überholt. Doch die Prophetien sollten sich nicht einlösen. Getanzt wurde weiterhin, sei es innerhalb populärer Revuen, sei es in den experimentellen Zirkeln der Avantgardisten. Und auch die Komponisten ließen sich immer wieder von der Vorstellung in den Bann ziehen, für die hervorragenden Ensembles ihrer Epoche zu schreiben. Als an Sergei Prokofiev Ende 1934 die Ideen heran getragen wurde, für das Kirow-Theater ein Ballett zu schreiben, war er Feuer und Flamme. Als Stoff kam “Romeo und Julia” in Frage. Die Leningrader jedoch winkten ab, und so sollte das Moskauer Bolschoi-Theater einspringen.
 
Im Sommer des Folgejahres entstand die Musik. Allerdings sorgten verschiedene Wirrungen dafür, dass die Uraufführung erst 1938 stattfand, und das auch nicht mit Moskau, sondern in Brünn. Im Januar 1940 zogen die Leningrader nach und präsentierten die traurige Romanze im Kirow-Theater, mit ein paar raumbedingten Änderungen, die bestimmte Tanzakzente hervorhoben. Im Anschluss daran entwickelte sich das Ballett zu einem Publikumsmagneten, der in aller Welt die Menschen in die großen Schauspielsäle zog. Die Gründe dafür sind vielfältig. Für den Choreographen Leonid Lavrovskij sind sie deutlich in der Musik selbst zu finden: “Prokofiev machte weiter, wo Tschaikovskij aufgehört hatte. Er entwickelte die Prinzipien der Sinfonik in der Ballettmusik und führte sie weiter aus. Er war einer der ersten sowjetischen Komponisten, der echte menschliche Gefühle und wirklichkeitsgetreue musikalische Bilder auf die Ballettbühne brachte.
 
Die Kühnheit seiner musikalischen Umsetzung, die scharf umrissenen Charakterstudien, die Vielfalt und Kompliziertheit der Rhythmen, die unorthodoxe Harmonik – alle diese Elemente in Prokofievs Musik und insbesondere im ýRomeo' sind geeignet, eine Aufführung in eine dramatische Einheit zu verwandeln”. Mit anderen Worten: Prokofiev hatte ein Gespür für die Verhältnismäßigkeit der Mittel und er verstand sie publikumswirksam einzusetzen. Für den Pianisten und Dirigenten Vladimir Ashkenazy liegt gerade in dieser gestaltenden Ausgewogenheit des geläuterten Neutöners, mit der er komplexe Zusammenhänge in nachvollziehbare Strukturen überführen konnte, der besondere Reiz der Beschäftigung. Seit langem sowohl solistisch als auch orchestral mit dem Werk Prokofievs vertraut, setzt er gemeinsam mit dem Royal Philharmonic Orchestra die umfangreiche Ballettmusik in der vom Urheber konzipierten Originalreinfolge um, tanzbar und doch konzertant, vital und voll immanenter Kraft. Die bereits 1991 in der Walthamstow Town Hall entstandene Aufnahme erscheint nun anlässlich des 60. Todestages des Komponisten.
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