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Russische Impressionen

03.05.2002
Die Gemälde von Viktor Hartmann kennt heute kaum noch jemand. Trotzdem haben sie Weltruhm erlangt. Denn sie waren Auslöser und Anreiz für Modest Moussorgsky, seine “Bilder einer Ausstellung” zu komponieren. Die Erinnerung an den kurz zuvor verstorbene Bekannten wurde zum Vorzeigebeispiel gelungener Programmmusik, zum Paradestück renommierter Orchester. Und großer Dirigenten wie Valéry Gergiev.
Im Prinzip war 1874 ein gutes Jahr für Modest Moussorgsky. Seine Oper “Boris Godunov” wurde nach mehrmaliger Verschiebung endlich am Petersburger Marientheater inszeniert und hatte trotz der unüblichen Geschichte, die vorsichtig Kritik an sozialen Missständen im zaristischen Russland übte, großen Erfolg. Er arbeitete ohne Pause an einem weiteren historischen Monumentalwerk, das unter dem Titel “Khovanshchina” allerdings unvollendet blieb, und schrieb nebenbei sein bedeutendstes Klavierstück, die “Bilder einer Ausstellung”. Der Höhenflug hielt aber nicht lange an. Denn zum einen hatte Moussorgsky zu viele Projekte im Kopf, die er verwirklichen wollte. Auf der anderen Seite blieb ihm aber durch die stupide Arbeit im Eisenbahnministerium, die er für seinen Lebensunterhalt brauchte, nur wenig Zeit, die Ideen auch tatsächlich auszuarbeiten. So verfiel er schrittweise der Trunksucht, aufgerieben zwischen dem eigenen Anspruch, der große Nationalkomponist Russlands sein zu wollen, und der Wirklichkeit, kaum diesen Vorstellungen gerecht werden zu können. Moussorgsky starb im März 1881 in St. Petersburg, im Alter von 42 Jahren.
 
Seinen Werken übrigens erging es ähnlich. Obwohl einige wie “Boris Godunow” bereits zu Lebzeiten gewürdigt wurden, waren es erst Umwege wie die Bearbeitungen großer Komponistenkollegen, die ihnen schließlich die Tore der Konzertsäle öffneten. “Die Nacht auf dem kahlen Berge” etwa, ein sinfonisches Gedicht mit zahlreichen Anspielungen auf das russische Brauchtum, bekam erst durch Nikolai Rimsky-Korsakov seine ästhetisch bereinigte Form, die manche prägnante Stellen im Sinne musikalischer Eleganz einebnete (Der Komponist selbst nannte es hingegen “ein original russisches Werk, das aus den heimatlichen Feldern hervorgekrochen und mit russischem Brot genährt worden ist”). Die “Bilder einer Ausstellung” wiederum wurden in ihrer Original-Klavierversion von Moussorgsky anno 1874 mehrfach aufgeführt. Das internationale Publikum entdeckte sie jedoch erst durch die Orchesterfassung von Maurice Ravel, der sie im Auftrag des russischen Dirigenten Sergej Koussevitzky für dessen Konzert am 19. Oktober 1922 in Paris bearbeitete. Auch hier wurden wieder einige Details geändert, ein paar Passagen gestrafft, so dass man streng genommen von Moussorgskys Urversion abgelenkt wird. Dem posthumen Erfolg des Werkes jedoch tat das keinen Abbruch.
 
Im Gegenteil. Noch immer sind zeitgenössische Künstler fasziniert von der gewaltigen sinfonischen Kraft, die der Ravel-Moussorgsky ausstrahlt. Für den Dirigenten Valery Gergiev war es daher eine Herausforderung, am Pult der Wiener Philharmoniker den Landsmann zu würdigen. Als langjähriger Leiter des armenischen Staatsorchesters und des Kirov-Theaters in St. Petersburg mit den Klängen seiner Heimat vertraut, führt er das renommierte Ensemble durch eine Galerie der akustischen Imaginationen, die durch die Unmittelbarkeit der Interpretation besticht. Egal, ob es sich um den Hexensabbat auf dem kahlen Berge oder den Gnomus von Hartmanns Bildern handelt – Gergiev schafft es, den viel gespielten Oeuvres die Frische einer vitalen Hommage an Moussorgsky abzugewinnen. Und er hat mit dem “Prelude to Khovanshchina” auch noch einen wenig bekannten Trumpf im Ärmel des Repertoires, den er mit dem Talent für Klangfarbenreichtum präsentiert. Eine würdige Einspielung aus dem Geiste russischer Impressionen.