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Von Mythen und Menschen

13.06.2003
Man fühlt sich an Mahlers Achte erinnert. Fünf Solisten, ein Sprecher, drei Männerchöre, ein achtstimmiger Chor und ein umfangreich besetztes Orchester – solche Fülle war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Verweis auf die Grenzen der sinfonischen Ausdruckskraft. Arnold Schönberg zog in Frühwerken wie den “Gurreliedern” trotzdem völlig anderen Konsequenzen als berühmte Zeitgenosse und Meinungsführer wie Wagner, Mahler, Bruckner.
Der Stoff war typisch mythisch, eine Fin-de-Siècle-Phantasie mit Verweisen ins Mittelalter. Der junge Arnold Schönberg war 1899 darauf gestoßen, als er eine Übersetzung der von Jan Peter Jacobsen zusammengefassten dänischen Legende des Königs Waldemar gelesen hatte. Da ging es um die Liebe des Potentaten zur schönen Tove, die allerdings im Auftrag der Königin ermordet wird. Waldemar hadert daraufhin mit Gott, verliert seine ewige Ruhe und spukt daraufhin bis zur erlösenden Morgendämmerung mit einem Geisterheer durch die verfallene Burg Gurre. Schönberg schloss die Komposition der “Gurrelieder” bereits 1901 ab, brauchte aber mit der Orchestrierung bis 1911.
 
Das Publikum nahm sie wesentlich freundlicher auf als die meisten übrigen Kompositionen, die der provokante Autodidakt bislang präsentiert hatte. Mag sein, dass es an der verschwurbelten Geschichte lag, die in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg, in einer Epoche, in der man Wagner liebte und George verehrte, den Menschen reizvoll erschien. Vielleicht war es aber auch die noch weitgehend verhaltene Aufbrechung des musikalischen Systems. Von den späteren Besonderheiten Schönbergs – Stichworte Dodekaphonik, Atonalität – war jedenfalls noch kaum etwas zu spüren. Vielmehr knüpfte das Werk des Komponisten, der sein Handwerk selbst und eigenständig durch die Aneignung zeitgenössischer Werke verfeinert hatte, an den geläufigen Bombast der Jahre an. Allerdings verstand er ihn, mit verblüffender Leichtigkeit zu konterkarieren. Allein die Einleitung zu der Konzertkantate hat an motivischen sinfonischen Feinheiten mehr zu bieten als das meiste, was sonst in diesen bewegten Vorkriegsjahren zu Papier gebracht wurde.
 
Die anderen beiden Werke, die sich Riccardo Chailly zwischen 1985 und 1992 im Auftrag der RIAS Berlin zusammen mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin und Musikern des Royal Cencertgebouw Orchestra vornahm, stammen ebenfalls aus der frühen Schaffensphase Schönbergs. “Verklärte Nacht” wurde unmittelbar vor den “Gurreliedern” geschrieben und geht auf ein Gedicht Richard Dehmels zurück, das von einer Frau erzählt, die ihrem Mann ihre Untreue beichtet. Der Komponist verstand diese zunächst für Kammersextett entstandene Komposition als Übung in der kleinen Form, die allerdings in der Ensemblevariante zu einer farbtonreichen, harmonisch kühnen und strukturell berauschenden Orchesterphantasie wurde. Seine “Kammersinfonie Nr.1” wiederum entstand 1906 während eines Urlaubs am Tegernsee.
 
Es ist die Kompaktversion des orchestralen Gedankens, die en miniature die formalen Vorgaben der mehrsätzigen Vorlagen umsetzt, relativiert und neu formuliert. Dieser Reduktionismus war zu seiner Zeit noch ungewohnt, dementsprechend verwirrt war auch die Hörerschaft, die die “Kammersinfonie” nicht recht annehmen wollte. Aus der zeitlichen Distanz heraus betrachtet, wirken alle drei Werke hingegen wie vorsichtige, zuweilen düsteren Prophetien auf die kommenden künstlerischen Jahre, die zwischen Idealen und Realem hin- und hergerissen neue Definitionen für die Inhalte von Musik finden mussten.
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