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Musik vom Ende des Jahrhunderts

15.03.2002
“Es ist der Tag des Jüngsten Gerichts. Ein Beben geht über die Erde. Hör`dir den Trommelwirbel an, und die Haare werden dir zu Berge stehen! Der große Appell ertönt: die Gräber springen auf und alle Kreatur ringt sich heulend und zähneklappernd von der Erde empor”. Soweit Gustav Mahler über das Finale seiner 2.Sinfonie. Sie ist ein akustisches Mahnmal der Apokalypse, groß und finster, voll urtümlicher Kraft. Eine Herausforderung für Riccardo Chailly und das Royal Concertgebouw Orchestra.
Die Zeit war reif. Als Gustav Mahler sich 1888 an die ersten Passagen seiner 2.Sinfonie wagte, war er noch nicht einmal dreißig Jahre alt, aber schon mit dem Thema Tod und Sterblichkeit vertraut. Das lag nicht nur an den melancholischen Nebenlinien seiner Seele, sondern auch am Geist der Zeit. Man nannte die Epoche nicht umsonst mit nostalgischen Beigeschmack ‘Fin-de-Siècle’, das Ende des ersten aufgeklärten Jahrhunderts, das den Menschen mehr Wohlstand, aber auch mehr Zerstörung als jemals zuvor gebracht hatte. Und 1888 war das Jahr, in dem Storm seinen Schimmelreiter an deutschen Dünen entlang geistern ließ, Nietzsche über den Willen zur Macht und den Antichrist philosophierte, der deutsche Kaiser Wilhelm I. starb und die Krone an seinen debilen, militärfanatischen, unglückseeligen Sohn überging. Das Lebensgefühl der Künstler und Intellektuellen orientierte sich seit der Spätromantik bereits an den Grenzerfahrungen, die das Leben unmittelbar machen sollten.
 
So war auch Mahler in den Diskurs eingebunden, fasziniert zum einen, bedrückt auf der anderen Seite von den Dimensionen, die die Gedanken an das Ende, an die Auferstehung mit sich brachten. Er arbeitete lange an dem aufwändigen Werk. Obwohl unmittelbar nach der Fertigstellung der ersten Sinfonie begonnen, dauerte es beinahe sechs Jahre, bis er sie für abgeschlossen hielt. Schließlich wurde sie am 4. März 1895 in Berlin unter seiner Leitung aufgeführt, zum Schrecken der Musiker, die mit dem Komponisten einer der strengsten und anspruchsvollsten Dirigenten seiner Generation am Pult stehen hatten.
 
Gustav Mahler geriet nach seinem Tod 1911 zunächst in Vergessenheit. Erst seit ein paar Jahren gehört er wieder zu den großen Namen des internationalen Konzertrepertoires. Das ist nicht zuletzt auch der Verdienst von Riccardo Chailly. Denn der Mahlerzyklus des erfahrenen Mailänder Dirigenten, der sich im achten Teil der Reihe der “Auferstehungssinfonie” und der Urfassung der “Totenfeier” widmet, ist einer der Glücksfälle musikalischen Zusammenwirkens. Da ist auf der einen Seite das umfassende Werkverständnis des Orchesterleiters, der sich bis in die Klangfarbendetails hinein präzise um die Verwirklichung der angemessenen und perfekten Klangwirkung kümmert. Da steht auf der anderen Seite mit dem Royal Concertgebouw Orchestra ein international renommiertes Spitzenensemble, das die Vorstellungen Chaillys auch umzusetzten vermag. Ergänzt um dem Chor der Prager Philharmoniker und die Solistinnen Melanie Diener und Petra Lang gelingt ihnen eine zeitgemäße Mahlerinterpretation zwischen nötigem Pathos und analytischer Distanz, die dem dunklen und vielschichtigen Werk gerecht wird.
 
Schließlich ging es dem Komponisten nicht zuletzt um zentrale Überlegungen zur menschlichen Existenz, die nach dem modifizierten Prinzip der Programmmusik umgesetzt wurden: “Zugleich ist die große Frage: Warum hast du gelebt? Warum hast du gelitten? Ist das alles nur ein großer, furchtbarer Spaß? Wir müssen diese Fragen auf irgendeine Weise lösen, wenn wir weiterleben sollen – ja sogar, wenn wir nur weitersterben sollen! In wessen Leben dieser Ruf einmal ertönt ist – der muss eine Antwort geben, und diese Antwort gebe ich im letzten Satz”. Mit Hilfe von Chailly kann man erahnen, was Mahler mit seiner Deutung gemeint hat.
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