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Meta-Mozart

10.06.2005
Als Luciano Berio 1993 von der Universität in Harvard gebeten wurde, eine Vorlesungsreihe zum aktuellen Stand der zeitgenössischen Musik zu halten, gab er ihr den viel sagenden Titel “Remembering The Future”. Denn für den italienischen Klangpionier, Komponisten und Dirigenten war es eindeutig, dass es keine Avantgarde ohne Verankerung in der Tradition geben konnte. Und daher wundert es auch wenig, dass der sich mit den “Orchestral Transcriptions” stellenweise sehr deutlich an die Vergangenheit anlehnt, nur um sie unter aktuellen Vorzeichen umzudeuten.
Allerdings dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis sich dieser Zeitgeist unter dem Kürzel “Postmoderne” in der öffentlichen Diskussion festsetzte. Denn zunächst wurden Begriffe wie Tradition und Innovation eindeutig als Gegensatzpaare verstanden. Was in der Vergangenheit lag, galt es zu überwinden, hinter sich zu lassen, am besten unter der Maßgabe eines völlig neuen Denkens, das die Gespenster der ersten Jahrhunderthälfte hinter sich lassen konnte. Für den jungen Luciano Berio war das zunächst eine große Chance. Am 24. Oktober 1925 in Oneglia geboren, hatte er zunächst ein klassisches Musikstudium bei Lehrern wie Giulio Cesare Paribeni und Giorgio Frederico Ghedini in Italien hinter sich gebracht, das er durch moderne Einsichten, die er im amerikanischen Tanglewood bei Luigi Dallapiccola gewann, ergänzte. Der Aufbruch erschien den jungen Konzeptdenkern in Form der elektronischen Musik möglich, da sich immerhin die Gelegenheit bot, bislang ungehörte Klänge und Zusammenhänge zu gestalten. 1954 gründete Berio gemeinsam mit Bruno die Abteilung “Studio di Fonologia musicale” beim Mailänder Rundfunk, die er bis 1961 leitete. Er entwickelte sich zu einem der Trendsetter der neuen elektro-akustischen Musik, wurde 1965 für sieben Jahre als Dozent an die Juilliard School in New York berufen und rundete diese mittlere kreative Lebensphase schließlich 1974–80 durch seine Arbeit als Leiter der Sektion Elektroakustik des von Pierre Boules gegründeten Institut de Recherche et de Coordination Acoustique-Musique in Paris ab.

Der Kern von Berios Arbeit drehte sich um die Erforschung der Verhältnisse von Wort, Klang und Szene zueinander. Er arbeitete mit Verfremdungen und Manipulationen, zerhackte Musik in Einzelteile, um sie unter veränderten Vorzeichen wieder zu kombinieren. Insofern waren auch die Transkriptionen bekannter Werke der Vergangenheit, denen sich Riccardo Chailly mit dem Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi im August 2004 annahm, ein wichtiger Bestandteil der kompositorischen Forschung. Denn an diesen Beispielen konnte man ausgezeichnet die verschiedenen Grade der Re-Konstruktion musikalischer Räume demonstrieren. Alle sechs Beispiele waren Auftragskompositionen und sie gingen mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden zu Werke. “Rendering for Orchestra” zum Beispiel orientierte sich an Schuberts “Unvollendeter” und gestaltete eine Sinfonie im Geiste der Romantik, die fortwährend sich Schubertesk gibt, ohne ein Original zu sein. Der “Contrapunctus XIX” wiederum spielt korrekt mit der Bachschen Farbgebung, das Fragment aus Purcells “The Fairy Queen” wird zur übersteigerten Barocksequenz und Boccherinis in vier Schichten übereinander gelegte Variationen von “Ritirata notturna di Madrid” wirken mit ihren extremen dynamischen Unterschieden wie das Programm einer Banda-artig vorüberziehenden Kapelle.
 
Lediglich das “Divertimento per Mozart” lässt kein direktes Zitat mehr erkennen, sondern nähert sich – eine Vorgabe der Auftraggeber in Donaueschingen von 1956 – über die Kompositionsweise dem Komponisten, quasi als eine Art Mozart-Kommentar. So bietet Chaillys Zusammenstellung mit Orchestral Transcriptions aus der Feder von Luciano Berio vieles zu entdecken, vor allem aber einen Komponisten, der geistreich und sensibel die Postmoderne paraphrasiert, und einen Dirigenten, der dieses Moment der Ironie präzise mit seinem Orchester herauszuarbeiten versteht.
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