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Mahler komplett

15.04.2005
Riccardo Chailly packt langsam seine Koffer. Von Herbst 2005 an wird er seinen Wohnsitz nach Leipzig verlegen, um sowohl dem dortigen Opernhaus als auch dem Gewandhausorchester vorzustehen. Rund 15 Jahre hat er dann an der Spitze des Concertgebouw Orchestra in Amsterdam verbracht und eine vielseitige Arbeit geleistet, die nicht nur die Menschen vor Ort im Konzertsaal begeistert hat, sondern auch spannende und faszinierende Dokumente auf CD hervorgebracht hat. Zu den wichtigsten Aufnahmen dieser Ära gehört der Mahler-Zyklus, mit dem Chailly sich systematisch einem der größten Symphoniker der Musikgeschichte genähert hat. Im vergangenen Jahr hat er ihn mit der Neunten vollendet, nun sind die Einspielungen komplett in einer 12CD-Box erhältlich. Ein Muss nicht nur für Sammler.
Zum Beispiel die Zweite: Als Gustav Mahler sich 1888 an die ersten Passagen seiner 2.Sinfonie wagte, war er noch nicht einmal dreißig Jahre alt, aber schon mit dem Thema Tod und Sterblichkeit vertraut. Das lag nicht nur an den melancholischen Nebenlinien seiner Seele, sondern auch am Geist der Zeit. Man nannte die Epoche ‘Fin-de-Siècle’, das Ende des ersten aufgeklärten Jahrhunderts, das den Menschen mehr Wohlstand, aber auch mehr Zerstörung als jemals zuvor gebracht hatte. Und 1888 war das Jahr, in dem Theodor Storm seinen Schimmelreiter an deutschen Dünen entlang geistern ließ, Friedrich Nietzsche über den Willen zur Macht und den Antichrist philosophierte, der deutsche Kaiser Wilhelm I. starb und die Krone nach einigen Wirren an seinen debilen und militärfanatischen Sohn überging. Das Lebensgefühl der Künstler und Intellektuellen orientierte sich daher seit der Spätromantik bereits an den Grenzerfahrungen, die das Leben unmittelbar machen sollten. So war auch Mahler in den Diskurs eingebunden, fasziniert zum einen, bedrückt auf der anderen Seite von den Dimensionen, die die Gedanken an das Ende, an die Auferstehung mit sich brachten. Er arbeitete lange an der zweiten Symphonie. Obwohl unmittelbar nach der Fertigstellung der ersten begonnen, dauerte es beinahe sechs Jahre, bis er sie für abgeschlossen hielt. Schließlich wurde sie am 4.März 1895 in Berlin unter seiner Leitung aufgeführt, zum Leidwesen der Musiker, die mit dem Komponisten einen der strengsten und anspruchsvollsten Dirigenten seiner Generation am Pult stehen hatten.

Gustav Mahler geriet nach seinem Tod 1911 zunächst in Vergessenheit, schaffte aber während der vergangenen Jahrzehnte mit einiger Verspätung den Sprung an die Spitze des internationalen Konzertrepertoires. Das ist nicht zuletzt auch der Verdienst von Riccardo Chailly. Denn der Mahlerzyklus des erfahrenen Mailänder Dirigenten ist einer der Glücksfälle musikalischen Zusammenwirkens. Da ist auf der einen Seite das umfassende Werkverständnis des Orchesterleiters, der sich bis in die Klangfarbendetails hinein präzise um die Verwirklichung der angemessenen und perfekten Klangwirkung kümmert. Da steht auf der anderen Seite mit dem Royal Concertgebouw Orchestra ein international renommiertes Spitzenensemble, das die Vorstellungen Chaillys auch umzusetzen vermag. Im Fall der Zweiten hat er außerdem den Chor der Prager Philharmoniker und die Solistinnen Melanie Diener und Petra Lang als Unterstützung. So gelingt ihnen eine zeitgemäße Mahlerinterpretation zwischen nötigem Pathos und analytischer Distanz, die dem dunklen und vielschichtigen Werk gerecht wird. Schließlich ging es dem Komponisten nicht zuletzt um zentrale Überlegungen zur menschlichen Existenz, die nach dem modifizierten Prinzip der Programmmusik umgesetzt wurden: “Zugleich ist die große Frage: Warum hast du gelebt? Warum hast du gelitten? Ist das alles nur ein großer, furchtbarer Spaß? Wir müssen diese Fragen auf irgendeine Weise lösen, wenn wir weiterleben sollen – ja sogar, wenn wir nur weitersterben sollen! In wessen Leben dieser Ruf einmal ertönt ist – der muss eine Antwort geben, und diese Antwort gebe ich im letzten Satz”.

Zum Beispiel die Dritte: Als Gustav Mahler sich ernsthaft an die Gestaltung seiner dritten Symphonie wagte, hatte er das Ziel, “mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen. Der immer neue und wechselnde Inhalt bestimmt sich seine Form von selbst. In diesem Sinne muss ich stets wieder erst lernen, mir meine Ausdrucksmittel neu zu erschaffen, wenn ich auch die Technik noch so vollkommen beherrsche, wie ich, glaub' ich, jetzt von mir behaupten kann”. Und doch war er regelmäßig von sich selbst und von der Materie überrascht, die offenbar eine Eigendynamik entwickelte. Als er im Sommer 1896 am Ende seiner Arbeit den ersten der sechs (!) Sätze schrieb, offenbarte er seiner Freundin Natalie Bauer-Lechner nicht ohne Verwunderung: “Das ist schon beinahe keine Musik mehr, das sind fast nur Naturlaute. Und schaurig ist, wie sich aus der unbeseelten, starren Materie heraus, ich hätte den Satz auch nennen können: was mir das Felsgebirge erzählt – allmählich das Leben losringt”.

Trotz solcher zwischenzeitlichen Hochstimmungen, war Mahler sich seiner Sache absolut nicht sicher. Er rang mit der Form, mit philosophischen Ideen wie einer Goethisch geprägten “Stufenfolge des Werdens” und arrangierte die sechs Sätze des ausführlichen Werkes immer wieder neu. Im Juni 1896 schließlich stellte er ernüchtert fest: “Aus den großen Zusammenhängen zwischen den einzelnen Sätzen, von denen mir anfangs träumte, ist nichts geworden”. Und doch entstand ein erstaunliches Opus, das von kaum hörbaren Andeutungen bis zu wuchtigem Pathos, von der ernsten Dramatik über Nietzsche-Verse bis hin zur “Posthornepisode” das immense Spektrum der gestalterischen Möglichkeiten der Epoche in einem individuell geprägten Klangereignis verband. Die 3. Symphonie wurde bald unter dem Titel “Natursymphonie” bekannt, weil sie von Mahler mit einigem mythischen Beiwerk als Kommentar versehen worden war.
 
Er selbst jedoch nahm das intellektuelle Beiwerk prophylaktisch mit Blick auf die Kritiker (die sich nach der Uraufführung am 9. Juni 1902 in Krefeld unter Mahlers Leitung auch prompt über das Werk hermachten) nicht so ernst. Bereits im Juli 1896 persiflierte er seinen Anspruch in der Sprache der Journaille und schrieb: “Manchmal spielen die Musikanten auch, ohne einer auf den anderen die geringste Rücksicht zu nehmen, und es zeigt sich da meine ganze wüste und brutale Natur in ihrer nackten Gestalt. Dass es bei mir nicht ohne Trivialitäten abgehen kann, ist zur Genüge bekannt. Diesmal übersteigt es allerdings alle erlaubten Grenzen. Man glaubt manchmal, sich in einer Schänke oder einem Stall zu befinden”. Riccardo Chailly allerdings orientiert sich mit dem Royal Concertgebouw Orchestra und Solisten wie der Mezzo-Sopranistin Petra Lang am Ernst der Interpretation, die dem Komponisten bei aller offensiver Ironie letztendlich am Herzen lag. Denn an anderer Stelle meinte er mit Blick auf die wirklich Spezialisten des Hörens und Verstehens: “Meine Sinfonie wird etwas sein, was die Welt noch nicht gehört hat! Die ganze Natur bekommt darin ein Stimme und erzählt so tief Geheimes, das man vielleicht im Traume ahnt”.


Zum Beispiel die Neunte: Für Gustav Mahler waren es bewegte Jahre. Nachdem ihn eine üble Pressekampagne aus seinen Ämtern in Wien gemobbt hatte, war er einem Ruf nach New York als Dirigent an die Metropolitan Opera gefolgt. Zugleich musste er 1907 den Tod seines Kindes verwinden und darüber hinaus die Diagnose seines Arztes, der bei ihm eine ernsthafte Herzerkrankung festgestellt hatte. So hatte er genug Grund, sich zu grämen, verbrachte jedoch trotzdem die Sommermonate regelmäßig in Europa und zog sich in sein Komponierhäusl nach Toblach zurück. Mit der nötigen kreativen Ruhe war es allerdings nicht immer so weit her. Über das Leben am Trenkerhof berichtete Mahler an seine Frau Alma: “Das Haus und der Platz ist wonnig, bis auf den Lärm, der mich ohne Unterlass geniert. Entweder flüstern die Bauern, dass die Fenster klirren oder sie gehen auf den Fußspitzen, dass das Haus wackelt. Die beiden munteren Stammhalter zwitschern den ganzen Tag. […] Der Hund lässt mich auch wieder fühlen, dass ich ein ‘Mensch unter Menschen’ bin und bellt von Anbruch der Dämmerung bis in die süßen Träume der Bauernjageln hinein. Ich komme alle Viertelstunde auf und gedenke der sanft Schnarchenden – Hol es der Teufel: Wie schön wäre die Welt, wenn man zwei Joch umzäunt hätte und mittendrin allein wäre”.


Mahler war insgeheim abergläubisch und hoffte, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, indem er möglichst konzentriert an einem monumentalen Werk arbeitete, das er für eine Art Konzentrat seiner musikalischen Erfahrungen hielt. Über den Sommer 1909 hinweg schuf er seine 9. Symphonie, die er bereits im Vorjahr begonnen hatte. Seinem Freund Bruno Walter berichtete er nicht ohne Stolz: “Ich war sehr fleißig und lege eben letzte Hand an eine neue Symphonie […] Das Werk selbst (Soweit ich es kenne, denn ich habe bis jetzt nur blind drauflos geschrieben und kenne jetzt – wo ich den letzten Satz eben zu instrumentieren beginne – den ersten nicht mehr) ist eine sehr günstige Bereicherung meiner kleinen Familie. Es ist da etwas gesagt, das ich seit längerer Zeit auf den Lippen habe – vielleicht (als Ganzes) am ehesten der IV. an die sie Seite zu stellen. (Doch ganz anders.) Die Partitur ist bei der wahnsinnigen Eile recht schleuderhaft und für fremde Augen wohl ganz unleserlich. Und so möchte ich es sehnlichst wünschen, dass es mir heuer im Winter gegönnt sein möge, eine Reinpartitur herzustellen”.

Tatsächlich verfertigte Mahler in New York noch eine klarere Abschrift. Die Uraufführung am 26. Juni 1912 musste jedoch sein Freund Walter dirigieren, denn der Komponist starb bereits mehr als ein Jahr zuvor. Insofern war es ihm tatsächlich gelungen, in Hinblick auf seine “9.Sinfonie” noch schneller als der Tod zu sein. Und daher wundert es auch wenig, wenn das Werk mit Themen wie Vergänglichkeit in Verbindung gebracht wird. Es hat die gewaltige Länge von rund 75 Minuten, umfasst eine bislang kaum bekannte monumentale Instrumentierung und gehört wegen seiner kolossalen Anlage und den dramatischen Schwankungen von Stimmungen und Tempo zur Kür jedes Dirigentendaseins. Chailly meistert die Herausforderung vom Trauermarsch des “Andante commodo” über den beinahe grotesken “Ländler” und das “Rondo Burleske” bis hin zu den Momenten transzendenter Klarheit im “Adagio” mit der über die Jahre hinweg gesammelten Erfahrung. Sein Mahler ist mächtig und zugleich fragil, eine beeindruckende Gratwanderung zwischen der Tiefe der Komposition und der Präsenz der Interpretation. “Chailly scheint den Rhythmus von Mahlers Musik inzwischen verinnerlicht zu haben. Seine Tempi und expressiven Gesten wirken vollendet natürlich”, schrieb das BBC Music Magazine über den bisherigen Zyklus. Für die Neunte trifft diese Charakterisierung erst recht zu.
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