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Jazz, not Jazz

13.02.2003
Gleich vorweg: Mit Jazz haben die Orchestersuiten von Dimitri Shostakovich kaum etwas zu tun. Der Begriff diente lediglich als Schlüsselwort für westlich kapitalistische Dekadenz, der der russische Komponist in den zwanziger Jahren mit einer Mischung aus Neugier und Verwunderung gegenüber stand. Umso amüsanter ist es, sich aus der zeitlichen Distanz die bizarren Klischees zu vergegenwärtigen, mit denen die amerikanischen Musiktrends der jungen Jahre des vergangenen Jahrhunderts umgeben wurden.
Im November 1925 ging Louis Armstrong zum ersten Mal mit seinen Hot Five ins Studio. Es war einer der Startschüsse der musikalischen Moderne, denn die im Laufe der folgenden eineinhalb Jahre entstehenden Aufnahmen gelten als frühe Höhepunkte des Jazz, der sich als kreative Kunstform von der salonmusikalischen Unterhaltungsseeligkeit der Golden Zwanziger zu emanzipieren begann. Was der junge Mann aus New Orleans quasi nebenbei als Programm formulierte - Unmittelbarkeit des Ausdrucks, Spontaneität und Kommunikation als Grundlage der Gestaltung - übte über zahlreiche Derivate und Vorformen einen immensen Reiz auf die Intellektuellen im Rest der Welt aus. Jazz war das, was man sich von der populären Musik erhoffte, ein bisschen exotisch (Duke Ellington zum Beispiel musste in jedes seiner Cotton-Club-Programme mindestens eine “Djungle”-Komposition mit Afrika-Assoziationen einfließen lassen), vor allem aber einem noch wenig abgenützten Kulturkreis entlehnt, der sich für die ganze triebüberheizte Epoche nach den Ersten Weltkrieg nutzbar machen ließ. Auch wenn das wenig mit den Klängen zu tun hatte, die heutzutage unter dem großen Sammelbegriff der improvisierenden Musik zusammen gefasst werden, so war es doch ein Reizwort besonderer Güte, das von Revuen bis hin zu sinfonischen Elaboraten unterschiedliche Künstler inspirierte.
 
Etwa zur selben Zeit, als Satchmo irgendwo im Süden der Staaten seinen “Potato Head Blues” anstimmte, besuchte der junge Dimitri Shostakovich im sowietischen Russland eine “Negeroperette”. Er war begeistert von der ungezwungenen Musik, auch wenn sie eher mit den Salonklängen Europas als den Improvisationen aus Übersee vergleichbar war. In den folgenden Jahren kümmerte er sich immer wieder um den Jazz als Kunstform, etwa 1928, als er, aus einer Wette mit den Dirigenten Nikolai Malko heraus, den Klassiker “Tea For Two” für Orchester arrangierte. Er wurde nun “Tahiti-Trott” genannt und avancierte durch Shostakovichs Bearbeitung zum Publikumsrenner in den sowietischen Großstädten. Anno 1934 wiederum arbeitete er in einer offiziellen Jazz-Kommission mit, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, den einheimischen “Jazz” auf eine künstlerisch (und ideologisch) vertretbare Ebene zu heben. In diesem Zusammenhang entstanden die “Suiten für Jazzorchester Nr.1 (1934) und Nr.2 (1938)” quasi als Kabinettstücke humoristisch relativierender Stilexperimenten unter staatlicher Ägide.
 
Da sich Shostakovich musikalisch immer wieder den Zwängen der kommunistischen Klangregelungen wiedersetzen konnte, zählen die Kompositionen bis heute zu den amüsanten Erbstücken einer ansonsten finsteren künstlerischen Epoche. Ebenso wie sein “Klavierkonzert c-moll op.15”, das vor cleveren Querverweisen auf populäre Melodien nur so strotzt, ohne sich jedoch auf die Ebene des platten Entertainments begeben zu müssen. Schon deshalb sind die Aufnahmen, die Riccardo Chailly zwischen 1988 (“Concerto” mit Ronald Brautigam am Klavier) und 1991 mit dem Royal Concertgebouw Orchestra verwirklichte, noch immer eine Entdeckung wert. Sie sind geistreiche Unterhaltung, die im Spiel mit den Erwartungshaltungen bereits ins Kabarethafte übergeht, und zugleich in Orchestrierung und Interpretation den künstlerischen Anspruch eines clever konzipierenden Komponisten wahrt.
 
Die Referenz:
 
"Die auf dieser CD vereinigten Stücke sind trotz des Obertitels kein Jazz. Sie spiegeln vielmehr den leichten, der Promenaden-, Film- und Tanzmusik zuneigenden Schostakowitsch der experimentierfreudigen frühen Jahre vor der ersten Formalismus-Kritik in der Sowjetunion. Ein Meisterstück an Instrumentationskunst. (Musikmarkt 2/1995)
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