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Der andere Giacomo

16.01.2004
Man kennt ihn als Opernkomponisten. Giacomo Puccini wurde schon zu Lebzeiten als Verdis Nachfolger gefeiert und hat den Schauspielhäusern zahlreiche Kassenschlager vermacht, die wie “La Bohème” oder “Turandot” bis heute ein großes Publikum erreichen. Was er allerdings sonst noch schuf, ist weitgehend unbekannt. Das liegt auch an der Musikwissenschaft, die Puccini erst langsam als grandiosen Komponisten in seiner Gesamtheit wahrzunehmen beginnt.
Es ist eine kleine Entdeckungsreise, die in Archive und Privatsammlungen führt. Denn viele der frühen Werke Giacomo Puccinis wurden entweder nicht ediert oder gelten als verschollen. Riccardo Chailly macht dieser zusätzliche Aufwand nichts aus. Im Gegenteil, er spornt eher an, sich in die Details zu vertiefen, Autografen zu vergleichen und vor Ort zu arbeiten. Der kompositorische Erstling des 17jährigen zum Beispiel war noch relativ leicht zugänglich. Denn 1999 konnte Puccinis Heimatstadt Lucca das Manuskript von “Preludio a Orchestra” aus privatem Besitz erstehen und machte es daraufhin der Öffentlichkeit zugänglich. Ein bisschen komplizierter war da schon die Beschäftigung mit Puccinis zweitem Opus “Mottetto per San Paolino”, das weiterhin einem Sammler gehört und von Chailly 1992 für die Neuauflage eines Notentextes zumindest eingesehen werden durfte. Die Nummer drei, “Cassato il suon dell’armi”, wiederum galt bis zum Frühjahr 2003 überhaupt als verschollen, bis die Enkelin des Komponisten kundtat, dass die Stimmen des Werkes im Besitz der Familie erhalten geblieben seien. Hier war schon reichlich Rekonstruktionsarbeit gefragt, bis hin zur Quellenrecherche im Archivio di Stato, Lucca.
 
Chailly allerdings beschränkt sich nicht auf frühe Werke Puccinis, sondern geht den gesamten Lebensweg des Komponisten ab. Dabei trifft er auf eigenwillige Oeuvres wie das “Requiem”, das zu Ehren Verdis in Auftrag gegeben worden war. Man merkt dem Stück deutlich die Zurückhaltung an, die Puccini seinem berühmten Vorgänger entgegen brachte. Auch wenn er gerne als dessen Nachfolger tituliert wurde, sah er selbst sich eher in der Tradition Richard Wagners. Besonders spannend schließlich ist die Schlusssequenz der Oper “Turandot”, die Chailly ebenfalls in die Sammlung “Puccini Discoveries” aufgenommen hat. Das unvollendete Werk, das zunächst auf Geheiß der Familie von Franco Alfano fertiggestellt worden war, wurde von Luciano Berio knapp achtzig Jahre später noch einmal bearbeitet und mit einem stimmigeren, zeitgenössischen Schluss versehen, der das unrealistische Ende des Librettos musikalisch geschickt relativiert. Chailly hält diese Bearbeitung nun zum ersten Mal auf CD fest und stellt damit eine reizvolle Alternative zum pathetischen Alfano-Original vor.
 
Im Juni 2003 im Mailänder Auditorium mit dem Orchestra Sinfonica di Milano Giuseppe Verdi aufgenommen, entstand auf diese Weise ein akustisches Raritätenkabinett voller Entdeckungen, das den jenseits der Opern unterschätzten Komponisten Puccini in einem neuen Licht zeigt.
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