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Das Klopfen der Totenuhr

05.07.2002
Anton Bruckner war euphorisch. Am 4. September schrieb er an den Dirigenten Hermann Levi: “Halleluja! Endlich ist die Achte fertig, und mein künstlerischer Vater muss der Erste sein, dem diese Kunde wird”. Umso mehr war er enttäuscht als sein Mentor das Werk zunächst ablehnte und ihn dadurch zur Überarbeitung zwang.
Die Kritik war so fundamental, dass Hermann Levi sie nicht Bruckner selbst, sondern dem gemeinsamen Freund Josef Schalk gegenüber äußerte: “Ich weiß mir nicht anders zu helfen, ich muß Ihren Rath, Ihre Hilfe anrufen; kurz gesagt: Ich kann mich in der 8te Sinfonie nicht finden und habe nicht den Mut sie aufzuführen. […] Ich finde das Instrumentarium unmöglich und was mich besonders erschreckt hat, ist die große Ähnlichkeit mit der 7ten, das fast Schablonenmäßige der Form. - Der Anfang des 1.Satzes ist grandios aber mit der Durchführung weiß ich gar nichts anzufangen. Und gar der letzte Satz - das ist mir ein verschlossenes Buch”. Natürlich bekam Bruckner die Kritik trotzdem zu hören und verfiel erst mal in eine schwere Depression, ja hatte sogar Selbstmordabsichten. Anno 1887 auf dem Höhepunkt seines Schaffens geschrieben, als er gerade mit der 7.Sinfonie gefeiert worden war, musste die Achte nun mehr als vier Jahre warten, bis sie nach der Überarbeitung am 18. Dezember 1892 mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Hans Richter aufgeführt wurde. Bruckners Gegner, der Kritiker Eduard Hanslick, hatte wie üblich einiges zu meckern. Andere Premierengäste wie der Komponistenkollege Hugo Wolf hingegen fanden Worte wie “Meisterwerk non plus ultra”.
 
Bruckner hatte einiges verändert. Am deutlichsten war die Neudeutung des Kopfsatzes, der nicht mehr in einem strahlenden C-Dur, sondern in einer leisen, fragmentarischen Wiederaufnahme des Hauptthemas endete, einer Coda, für die der Urheber selbst (seinen Depressionen gemäß) mysteriöse Worte fand: “Dös is wie wenn einer im Sterben liegt, und gegenüber hängt die Uhr, die während seines Lebens zu Ende geht ? immer gleichmäßig fortschlägt: tik, tak, tik, tak…”. Außerdem kürzte er den langsamen Satz und das Finale, veränderte den Charakter des Adagios von C nach Es-Dur und schrieb das chromatische Scherzo um (das er in den Entwürfen mit “zerstreute Tonalität” kennzeichnete). So setzte sich, letztlich durch die Kritik angeregt, eines des zentralen Oeuvres sinfonischer Kunst des 19. Jahrhunderts zusammen, das in seiner harmonischen Offenheit und struktureller Konsequenz aus heutiger Sicht zu Bruckners Hauptwerken gehört.
 
Es wundert daher kaum, dass die Achte immer wieder Dirigenten herausfordert, sich mit ihr zu beschäftigen. Der in Mailand geborene Riccardo Chailly, der sein 1988 das Koninklijk Concertgebouw Orkest leitet, nähert sich dem Monumentalwerk mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Humor. Natürlich bleibt die latent morbide Stimmung des Werkes erhalten. Doch wenn etwa Bruckner das Finale folgendermaßen kommentiert: “Unser Kaiser bekam damals Besuch des Zaren in Olmütz, daher Streicher; Ritt der Kosaken; Blech: Militärmusik: Trompeten; Fanfaren, wie sich die Majestäten begegnen”, dann arbeitet Chailly mit Witz die Kontraste zwischen dem Ernst des großen Moments und der Ausgelassenheit des Feierlichen heraus. Überhaupt scheint dem Dirigenten, der sich eben erst mit einem ausgedehnten Mahler-Zyklus empfahl, die emotionale Vielschichtigkeit des Werkes entgegen zu kommen, denn er versteht es beindruckend, sie auf sein Ensemble zu übertragen. Mit Chaillys Version hätte sich vielleicht sogar Hanslick von Bruckner überzeugen lassen. Wenn der das überhaupt gewollt hätte.
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