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Bachs Statthalter

Riccardo Chailley © Sasha Gusov
Sacha Gusov
05.01.2010
Angefangen hatte es mit Felix Mendelssohn. Als Dirigent des Gewandhausorchesters machte er sich in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts dafür stark, die fast vergessenen Chor- und Ensemblewerke von Johann Sebastian Bach wieder in das Repertoire aufzunehmen. Seitdem sind die Leiter des Orchesters in der Pflicht, sich zeitgemäß mit den Werken des einst in Leipzig tätigen Barockkomponisten zu beschäftigen. Riccardo Chailly hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, einige der zentralen Meisterstücke von Bach in seinem Sinne zu interpretieren. Zahlreiche Konzerte und drei prominente Veröffentlichungen stehen in diesem Jahr auf dem Plan: das „Weihnachtsoratorium“ im späten Herbst, die „Matthäus-Passion“ im Sommer und zum Start die „Brandenburgischen Konzerte“.
Für Bach war es eine künstlerisch fruchtbare Zeit. Im Jahr 1717 hatte er am Hofe des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen seine Stelle als Kapellmeister angetreten und war im Laufe der folgenden Jahre außerordentlich kreativ gewesen. So fiel etwa beispielsweise die Abfassung des ersten Buchs des „Wohltemperierten Klaviers“ in diese Phase. Allerdings bot seine Position kaum Aufstiegsmöglichkeiten und deshalb sah er sich auch nach anderen Stellen um. Gefallen hätte ihm zum Beispiel die Position als Organist an der Hamburger St. Jacobi-Kirche und dafür nun wiederum hätte ihm der Titel des Hofkomponisten gut zu Gesichte gestanden. Als daher der Markgraf Christian Ludwig von Brandenburg ihn aufforderte, ein paar Konzerte für dessen renommierte und versierte Hofkapelle zu verfassen, strengte sich Bach in besonderem Maße an und gestaltete seine „Six Concerts avec plusieurs instruments“ möglichst vielfältig, um seine Kompetenzen als Klangkünstler eindrucksvoll zu demonstrieren.
Das erste Konzert entsprach mit seiner Gegenüberstellung von Streichern, Holzbläsern und Hörnern dem Typus des Gruppenkonzerts, das zweite war nur für vier Solisten und Basso Continuo gedacht, nach Art der damals beliebten „Sonate auf Concertenart“ und wurde erst später durch Orchesterstimmen ergänzt. Das dritte Konzert ist vom kontrastreichen Dialog zweier Streicherchöre bestimmt, die Nummer vier wechselt zwischen virtuosen Violinenpassagen und schlichten Blockflötenmelodien. Im fünften Konzert übernimmt das Cembalo eine leitenden Funktion und das sechste wirkt mit seiner ungewöhnlichen Instrumentierung wie eine erweiterte Triosonate. Er widmete im März 1721 seine „Six Concerts avec plusieurs instruments“ dem Markgrafen von Brandenburg und dieser wurde auf diese Weise zu mehr als nur einer Fußnote der Geschichte, denn die „Brandenburgischen Konzerte“ gehören zu den bekanntesten und folgenreichsten Kompositionen des Barocks überhaupt.
Deren Schönheit und Noblesse fasziniert auch Riccardo Chailly, der die kommenden Monate ganz in den Dienst des Oeuvres von Johann Sebastian Bach stellt. Den glänzenden Startpunkt markiert die Veröffentlichung der mit historischer Akribie und großer Vitalität umgesetzten „Brandenburgischen Konzerte“ mit dem Gewandhausorchester. Darüber hinaus aber wird Chailly auch einige Premieren der Musikwelt präsentieren. Im Juni 2010 zum Beispiel stehen im Rahmen einer Konzertreihe die Orchesterbearbeitungen der „Goldbergvariationen“ auf dem Programm, die Jochen Neurath für das Ensemble erstellt hat. Und ebenfalls ihn diesen frühen Sommerwochen werden die vom Gewandhaus bei Laurent Mettraux in Auftrag gegebenen Chor/Orchesterbearbeitungen der Variationen über das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm' ich her“ uraufgeführt. So wird sich über das Jahr hinweg ein vielfältiger Zyklus zusammensetzen, der in diesen Tagen fulminant und auch für alle Nicht-Leipziger nachvollziehbar mit den „Brandenburgischen Konzerten“ startet.
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