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Achse der Kunst

13.02.2003
Und wieder Chopin. Eigentlich müssten die Werke des polnischen Nationalkomponisten schon lang in ihrer Gänze ausgedeutet sein. Doch es gibt noch immer neue Perspektiven. Sie hängen mit der persönlichen Erfahrung der Interpreten zusammen, ihren Wurzeln und Vorlieben. Deshalb ist es etwas Besonderes, wenn der Brasilianer Nelson Freire sich der “Etüden op. 25”, der “Drei neuen Etüden, op. posth.” und der “Sonate Nr.3 in h-moll, op. 58” annimmt.
Es muss eine verborgene Gemeinsamkeit zwischen musikalischen Empfindungen Frédéric Chopins und der brasilianischen Seele geben. Schon Ernesto Nazareth (1863–1934), dem südamerikanischen Pendant zu dem polnischen Romantiker, wurde vorgeworfen, viele seiner 220 Klaviersonaten würden allzu direkt sich auf die Vorlagen aus der alten Welt beziehen. Seinem Ruhm jedoch schadete es nicht und so gehört das ins Spielerische transformierte Pathos des 19.Jahrhunderts zum festen Bestandteil der brasilianischen Konzertsaaltradition. Tatsächlich scheint sich diese Geistesverwandtschaft auch in der übernächsten Generation noch fortzusetzen. Schon lange nicht mehr wurde mit derart feinfühligem Bewusstsein um die Binnennuancierungen der Stücke etwa mit Chopins Etüden umgegangen, wie es Nelson Freire gelingt. Vielleicht ist es eine besondere Affinität zu rhythmischen Details, vielleicht auch der individuelle Umgang in der Gewichtung des melodischen Gehalts der Stücke – in jedem Fall klingt Freires Chopin offener, selbstverständlicher als viele ebenfalls technisch brillante Versionen der Klavierkollegen.
 
Die Erfahrung mit der Repertoire hat der brasilianische Pianist im Laufe einer ungewöhnlichen Karriere angesammelt. Am 18.Oktober 1944 in Minas Gerais geboren, machte er bereits als Dreijähriger von sich reden. Er konzertiert als Kind regelmäßig, nach dem Zehnjährigen wird sogar eine Straße benannt. Am einheimischen Konservatorium von Nise Obino und Lucia Branco weiter ausgebildet, gelingt Freire 1957 der Sprung in die brasilianische Hauptstadt, als er die erste Ausgabe des Wettbewerbs von Rio de Janeiro gewinnt. Ein Stipendium bringt den Jungen zu Bruno Seidlhofer nach Wien. Als Fünfzehnjähriger beginnt er regelmäßig und häufig zu touren, spielt über die sechziger Jahre hinweg nahezu überall in der Welt und gewinnt nebenbei zahlreiche Auszeichnungen wie 1964 die Dinu-Lipatti-Medaille in London.
 
Seine Aufnahme der “24 Préludes” von Chopin räumt anno 1972 weitere Preise an, der Künstler jedoch beginnt, sich langsam zu verschleißen. Freire reduziert daher deutlich seine Konzerttätigkeit, arbeitet häufiger im kammermusikalischen Bereich unter anderem mit dem Cellisten Misha Maisky und der Pianistin Martha Argerich (an zwei Klavieren). Das aktuelle Chopin-Recital ist sein Debüt für Decca, im September 2001 und Januar 2002 in Suffolk aufgenommen. Es dokumentiert einmal mehr die herausragende Stellung, die Nelson Freire in der Riege der großen Pianisten zusteht.
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