Jean-Yves Thibaudet | News | Die bezwungene Tücke

Die bezwungene Tücke

19.09.2007
Camille Saint-Saëns (1835–1921) teilt das Los so manches Hochbegabten. Der französische Komponist war auf derart vielen Gebieten hervorragend, dass er seinen Zeitgenossen eher Angst und Neid, denn vorbehaltlose Bewunderung einflößte. Dementsprechend ist er bis heute hauptsächlich als Verfasser des Gelegenheitswerks “Der Karneval der Tiere” bekannt, anstatt als der gewürdigt zu werden, der er eigentlich war: Ein Mentor des Romantischen, Humorvollen an der Schwelle zur nüchternen Moderne. Klar wird das, wenn man seine Musik sprechen lässt, wie etwa der Pianist Jean-Yves Thibaudet, der sich mit seinem aktuellen Album zwei der fünf Klavier-
konzerte von Saint-Saëns angenommen hat und damit eine Lanze für den Großmeister des Opulenten bricht.
Schon der Knabe setzte seine Umwelt in Erstaunen. Als zweieinhalbjähriger spielte Camille Saint-Saëns erste Melodien am Klavier, wenige Monate später komponierte er ganze Stücke. Mit fünf las der die Partitur von Mozarts “Don Giovanni” wie andere Kinder Abenteuergeschichten, mit zehn gab er sein Debüt mit Konzerten von Mozart und Beethoven und bot dem Publikum an, als Zugabe eine beliebige der 32 Klaviersonaten Beethovens nach Wahl zu spielen. Er war nicht nur ein Wunderkind, der ein photographisches Gedächtnis gehabt haben muss, sondern darüber hinaus ein vielfach begabter und interessierter Zeitgenosse, der neben seiner Arbeit als Komponist auch als Musikkritiker und Wissenschaftler – er betreute unter anderem die ersten Gesamtausgaben der Werke von Rameau und Gluck – Lyriker, Dramatiker und Philosoph tätig war und darüber hinaus profunde Kenntnisse als Botaniker, Insekten- und Schmetterlingskundler, Geologe, Astronom, Archäologe und Mathematiker hatte. Wahlweise konnte er als Dirigent und Kammermusiker, Klaviervirtuose und Organist arbeiten, war der Prototyp des gelehrten Komponisten und übrigens auch ein engagierter Pädagoge, der 1871 die Societé Nationale de Musique gründete, um originäre Musik aus dem eigenen Land zu pflegen und junge Begabungen wie beispielsweise Claude Debussy zu fördern. Was aber nicht hieß, dass er sklavisch am Patriotischen hing. Im Gegenteil: Camille Saint-Saëns war der erste Pianist, der in Frankreich alle Klavierkonzerte von Mozart aufführte.
 
Und er selbst fügte der Gattung auch fünf eigenständige Werke hinzu, verteilt über den langen Zeitraum von 38 Jahren. Das erste Klavierkonzert von 1858 wird heutzutage kaum noch gespielt, das zweite hingegen, das genau ein Jahrzehnt später entstand, ist wegen seiner Farbvielfalt bisweilen auf den Spielplänen zu finden, wohl auch wegen des eleganten Scherzos, das seine Popularität beim bildungsbürgerlichen Publikum des ausgehenden 19.Jahrhunderts unterstützte. Das Fünfte wiederum, komponiert 1896 im Anschluss an zahlreiche Reisen unter anderem in den Orient, die Camille Saint-Saëns bevorzugt mit seinem Diener und seinem Hund unternahm (er komponierte übrigens bei einer dieser Gelegenheiten die Nationalhymne von Uruguay), und erhielt aufgrund seiner vermeintlich exotischen Stimmung den Beinamen “Das Ägyptische” (allerdings nicht vom Komponisten selbst). Beide Werke – mehr noch als den “Variations symphoniques pour piano et orchestra” von César Franck, die von Jean-Yves Thibaudet als Kontrast den Klavierkonzerten zur Seite gestellt wurden – zeichnen sich durch immense Ansprüche an den Interpreten aus, die von Camille Saint-Saëns durchaus bewusst als Herausforderung gedacht waren: “Es ist die Virtuosität an sich”, merkte der Komponist an, “die ich verteidigen will. Sie ist die Quelle des Malerischen in der Musik, sie verleiht dem  Künstler die Flügel, mit denen er dem Prosaischen und Banalen entfliehen kann. Die bezwungene Tücke allein ist schon ein Werk der Schönheit”. Es spricht für Thibaudet, dass seine Interpretation der beiden gewaltigen Konzerte ihm derart leicht von der Hand geht, als müsste er nichts weiter tun, als die Finger ein wenig über die Tasten gleiten lassen. Den Komponisten hätte das gefallen, denn das ist Meisterschaft und seiner würdig.
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