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Im Bann der Stimme

16.11.2005
Sir Michael Tippett (1905–1998) hatte eine besondere Vorliebe für Stimmen. Immer wieder, an zentralen Positionen seiner Karriere, komponierte er Vokalwerke, wie etwa das antifaschistische Oratorium “A Child Is Born”, an dem er zwei Tage nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu arbeiten begann. Oder das “Magnificat and Nunc Dimittis”, das er 1961 zum 450. Geburtstag des St. Johns College in Cambridge beisteuerte. Seine langjährige Plattenfirma Decca widmet ihm daher zum 100. Geburtstag eine Sonderedition auf 4 CDs mit der Essenz seiner “Vocal Music”.
Michael Tippett stammte aus London, wuchs in der Gegend von Suffolk auf und war zunächst keiner von denen, der sofort wusste, dass er eine Laufbahn als Komponist einschlagen würde. Zwar bekam der Junge ein wenig Klavierunterricht, doch dauerte es bis in die frühen Zwanziger Jahre, dass er zur Musik bekehrt wurde. Das Schlüsselerlebnis für die neu aufflammende Begeisterung war ein Konzert mit Werken von Ravel, die den Teenager derartig bei der Seele gepackt hatten, dass er sich für ein Musikstudium entschloss. So begann Tippett 1923 seine professionelle Ausbildung am Royal College of Music, unter anderem als Schüler von Adrian Boult und Malcolm Sargent. Nach dem Abschluss 1928 ging er zunächst nach Surrey, unterrichtete ein wenig Französisch, schrieb aber auch bereits erste eigenständige Werke wie sein “String Quartet Nr. 1”. Er begann eine individuelle, expressive und von strengem Formwillen geprägte Tonsprache zu entwickeln, die ihm immerhin so viel Renommee verschaffte, dass er 1940 mit der Leitung des Morley College in London betraut wurde. Allerdings war die Lage in den Kriegsjahren gespannt und da Tippett als überzeugter Pazifist seinen Mund nicht halten konnte, wurde er zwischenzeitlich ins Gefängnis gesteckt. Das blieb jedoch glücklicherweise ein Intermezzo, das den Komponisten nicht daran hinderte, bis 1951 weiter das College zu leiten oder auch von 1969–74 als künstlerischer Leiter des Bath Festivals zu fungieren und seine zweite Begabung als Dirigent und Chorleiter zu pflegen.

Mitte der sechziger Jahre hatte man dann auch von offizieller Seite erkannt, welche Bedeutung Tippett für das britische Kulturleben hat und ihm 1966 den Ehrentitel “Sir” verliehen. Seine Einstellung zur Musik war geprägt von Neugier auf der einen und strengem Formwillen auf der anderen Seite. Er komponierte auf der Basis einer erweiterten Tonalität, die auch Elemente der Folk Music und des Jazz integrierte, modifizierte sein System von den Nachkriegsjahren durch kontrastreiche zeitgenössische Strukturen, ohne jedoch die neoklassische Grundhaltung vollends zu verleugnen. Sein Oeuvre reicht von dem antifaschistischen Oratorium “A Child Of Our Time” (1939/44) über vier Sinfonien (1945–77), mehrere Opern (1955–89) oder Orchesterwerke bis hin zu kammermusikalischen Pretiosen wie seinen fünf Streichquartetten und verschiedenen Sonaten. Die Zusammenstellung mit Vokalwerken umfasst dabei Werke wie seine dritte Oper “A Knot Garden” (1970) nach einer Vorlage von William Shakespeares “Der Sturm”, aber auch Lieder und Miniaturen wie die “Four Songs From The British Isles”, die “Five Spirituals” und die “Songs For Achilles” und “Songs For Ariel”.

Zu den herausragenden Solisten dieser von 1973 an entstandenen Aufnahmen gehören unter anderem die Tenöre Philip Langridge, Robert Tear, die Sopranistin Jessye Norman und die Mezzo-Sopranistin Janet Baker. Chorwerke wurden von der Schola Cantorium of Oxford / Nicholas Cleoburry umgesetzt, für das Oratorium “A Child Of Our Time” dirigierte Sir Colin Davis das BBC Symphony Orchestra. So ist die Zusammenstellung mit Vokalwerken von Sir Michael Tippett ein Grundlagenwerk zur britischen Musikgeschichte des vergangenen Jahrhunderts, das in keiner Sammlung zeitgenössischer Klangkultur fehlen darf.