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Lebensschatten – Zwei Dokumentationen über Benjamin Britten auf DVD

Benjamin Britten
© Decca
21.11.2013
Auf dem Höhepunkt der weltweiten Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Benjamin Britten erscheinen zwei Dokumentarfilme über diesen wohl bedeutendsten britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts erstmals auf DVD. John Bridcut, Großbritanniens profiliertester Regisseur von Komponistenporträts, hat beide Filme für die BBC konzipiert und gedreht. Er widmet sich zwei heiklen Themen, dem kontrovers diskutierten Verhältnis Brittens zu minderjährigen Knaben und der von schwerer Krankheit überschatteten Arbeit an “Death in Venice”, Brittens letzter Oper nach der Novelle von Thomas Mann. “Britten’s Children” und “Britten’s Endgame” dringen ungewöhnlich tief in verborgene Schichten der komplexen Persönlichkeit des Komponisten vor.
Bewunderungswürdige Klarheit: “Britten’s Children”
„Im Zentrum der Klangwelt Brittens stand der Knabensopran”, schreibt der britische Autor Jonathan Keates. Die Wirkung von Werken wie “Spring Symphony” und “Saint Nicolas” verdankt sich in entscheidendem Maß der Kraft jubelnder Kinderchöre. Das tragische Pathos in “Peter Grimes” und “Turn of the Screw” wird von Knabenstimmen artikuliert. Und sogar die „erwachsenste“ aller Opern von Benjamin Britten, “Billy Budd” basiert auf einer gescheiterten Vater-Sohn-Beziehung zwischen Kapitän Vere und dem Titelhelden. Wichtige Inspiration für sein kompositorisches Schaffen bezog Benjamin Britten aus der Kindheit. „It’s because I’m still thirteen“, so erklärte er einmal sein besonderes Vermögen, Musik für Kinder zu schreiben.
Doch Gerüchte umrankten Benjamin Brittens Privatleben. Nicht nur die Liebesbeziehung des Komponisten zum Tenor Peter Pears erregte öffentlichen Anstoß. Es kursierten auch Spekulationen über die Lauterkeit der Absichten, mit denen Britten die Nähe und Zuneigung von minderjährigen Jungen suchte. Heranwachsende, „Knaben, so dünn wie ein Brett“, wie es Benjamin Brittens Dichterfreund WH Auden einmal ausdrückte, übten eine besondere Faszination auf Britten aus – davon kündet auch sein musikalisches Werk vielstimmig.
Wie weit ging Benjamin Brittens Liebe zu Knaben? Dieser Frage geht die preisgekrönte BBC-Dokumentation “Britten’s Children” aus dem Jahr 2004 nach. Regisseur John Bridcut wertete Briefe des Komponisten aus, befragte Zeitzeugen und interviewte eine Anzahl von Brittens einstigen Freunden im Knabenalter. „Ein starker und sensibel ausbalancierter Film, der ein provokantes Thema mit bewunderungswürdiger Klarheit präsentiert”, urteilte die Jury des Golden Prague Television Festivals 2005. Decca veröffentlicht die Dokumentation nun erstmals auf DVD. (John Bridcut veröffentlichte 2006 unter gleichem Titel ein ebenfalls hochgelobtes Buch.)

Gegen die Zeit: “Britten’s Endgame”
John Bridcuts neues Porträt über Benjamin Britten wirft ein Schlaglicht auf die letzten zehn Lebensjahre des Komponisten. Gekonnt inszeniert der Regisseur Brittens „Endspiel“ als tragische Parallele zum Schicksal Gustav Aschenbachs in der Novelle “Der Tod in Venedig” von Thomas Mann.
Zu Beginn der 1970er Jahre hatte man ein schweres Herzleiden bei Benjamin Britten diagnostiziert. Doch Britten wollte sich der dringend empfohlenen Operation erst nach Vollendung seiner letzten Oper “Death in Venice” unterziehen. So müssen die ihm nahe stehenden Menschen sorgenvoll mitansehen, wie sich der Komponist mit der Arbeit an dem Werk über einen alternden Schriftsteller und dessen Liebe zu einem schönen Jüngling verausgabt. Es entsteht Brittens vielleicht persönlichste Schöpfung, von Peter Pears einmal als „evil opera“ bezeichnet.
Die nach der Fertigstellung von “Death in Venice” im Mai 1973 durchgeführte Herzoperation scheint einen Schlussstrich unter Benjamin Brittens Laufbahn zu setzen. Er verlässt das National Heart Hospital in London arbeitsunfähig, wirkt vorzeitig gealtert und gebrechlich. Doch noch einmal gelingt es ihm, neue Schaffenskraft zu schöpfen und zwei letzte Meisterwerke, die dramatische Kantate “Phaedra” und das Streichquartett Nr. 3, basierend auf Material aus “Death in Venice”, zu komponieren.
John Bridcuts Dokumentation “Britten’s Endgame” wurde am 16. November 2013 erstmals im britischen Fernsehen ausgestrahlt. Nur wenige Tage später erscheint sie nun bei Decca auf DVD. Der tiefgründige und berührende Film beinhaltet eine Vielzahl persönlicher Schilderungen von Wegbegleitern und Freunden Brittens, zeigt Ausschnitte aus Aufführungen mit Interpreten wie Sarah Connolly, John Graham-Hall und Allan Clayton sowie teils unveröffentlichte Bild- und Tonaufnahmen von dem Komponisten.