Alfred Brendel | News | Feinarbeit

Feinarbeit

17.01.2003
Sein Debüt gab Alfred Brendel anno 1948 in Graz mit Beethovens 5. Klavierkonzert. Seitdem beschäftigt er sich kontinuierlich mit den Möglichkeiten der Ausdeutung dieses zentralen Werkes der klassischen Literatur und seiner vier Vorgänger. Und er schafft es, die Interpretation immer wieder neu zu definieren. Zuletzt anno 1998 zusammen mit Sir Simon Rattle und den Wiener Philharmonikern.
Es ist schon ein Wagnis, sich Ende der Neunziger Jahre noch einmal der Kompletteinspielung von Beethovens Klavierkonzerten zu widmen. Aber für Alfred Brendel sind die pianistischen Grundlagenwerke an der Grenze zwischen Wiener Klassik und vorausgeahnter Frühromantik Eckpfeiler der eigenen Künstlerbiographie, die unter veränderten Voraussetzungen stetig umgestaltet werden. Und sie führten in verschlungener Linie zu der derzeit letzten Version. Ein paar Stationen des Weges zur Orientierung: Im Jahr 1948 gibt der junge Pianist aus dem österreichischen Wiesenberg seinen Konzerteinstand während des Musikstudiums in Graz mit dem 5.Klavierkonzert. Es folgen Jahre der Verinnerlichung, Allgemein- und Herzensbildung, die Brendel über die Musik hinaus auch zum Studium von Literatur, Malerei und Philosophie führen. Nebenbei sammelt er erste Trophäen, etwa 1949 den Premio Città di Bolzano, hält sich aber im Vergleich zu anderen Klavierkollegen im Konzertsaal zurück. Anno 1955 kommt er mit den Wiener Philharmonikern in Kontakt, fünf Jahre später tritt er mit ihnen erstmals bei den Salzburger Festspielen auf.
 
Es ist ein behutsamer und reflektierter Prozess der Annäherung sowohl an das Ensemble, als auch an Beethoven. Zunächst entstehen schlanke und jugendlich elegante Konzertaufnahmen der Werke für die Firma Vox/Trunabout, die Brendel jedoch nicht dauerhaft zufrieden stellen. Als er zu Philips wechselt, nützt er die Gelegenheit, um den Zyklus zusammen mit Bernard Haitink und dem Amsterdamer Concertgebouw Orchestra erneut einzuspielen. Der Sprung in der interpretatorischen Reife ist beachtlich, denn es gelingt dem inzwischen international renommierten Spezialisten für klassisches und romantisches Repertoire eine klare Klangarchitektonik, die vor allem auf die Strukturarbeit im Wechselspiel von Orchester und Solist Wert legt. Als der Wechsel von Vinyl zur CD ansteht und die Möglichkeiten des Nachmasterings noch nicht derart umfassend sind wie heute, entschließt Brendel sich zur erneuten Aufnahme der Werke, diesmal mit James Levine am Pult. Doch noch immer ist er nicht endgültig zufrieden mit dem Resultat seiner Bemühungen, zumal sich eine Zusammenarbeit anbahnt, die ungewohnte Perspektiven verspricht.
 
Sir Simon Rattle ist rund ein Vierteljahrhundert jünger als Alfred Brendel. Der an der zeitgenössischen Musik geschulte Dirigent aus Liverpool hat eine andere Sicht auf die Vergangenheit als sein Kollege am Klavier. Das führt zu konstanten Auseinandersetzungen über die Interpretationsfragen, die die beiden Koryphäen seit 1991 öffentlich austragen (damals mit Unterstützung des City of Birmingham Orchestra). Sieben Jahre später fassen sie diesen Prozess der Zusammenarbeit vor Mikrofonen fest, diesmal mit den Wiener Philharmonikern als Partnern der Gestaltung. Das Resultat der Bemühungen ist so berauschend, dass der Rezensent des Fachorgans Klassik heute Peter Cossé anno 1999 ins Schwelgen gerät: “Zweifellos haben sich die Künstlernaturen Brendel und Rattle in wechselseitig kritischer Beäugung und Wertschätzung, als die fünf Klavierkonzerte im vergangenen Jahr in Wien gegeben und produziert wurden, auf glückliche Weise aneinander gerieben und ergänzt. Die Klangqualität und Reaktionsschnelle der Wiener Philharmoniker, ihr mittlerweile um einige Nuancen kammermusikalischeres, affektiveres Spiel verleihen etwa dem – recht flott intonierten – Vorspiel zum C-Dur-Konzert einen Hauch von Haydn-Eloquenz à la Frans Brüggen. Das bedeutet nicht, dass Rattle und die Wiener in den Zonen von Pathos und Wucht nicht für ein prächtiges, imperiales Bühnenbild sorgen. Aber die kleinen wie die großen Ereignisse wirken auf eine lebhafte Weise differenziert und in ihrer psychologischen Feinmechanik ausgekostet wie in keiner zweiten mir bekannten Einspielungsserie. Der expressive Ton im Orchester wird von Brendel mit kleinsten, aber auch übermütigen Pointierungen aufgegriffen und eigenwillig abschattiert. Unter solch intellektuell und emotional beflügelnden Bedingungen wird es nicht verwundern, wenn manche Passagen wie neu gelesen und neu erfühlt wirken”.
 
So ist es wohlmöglich im Sinne Brendels noch immer nicht die endgültige Version der Klavierkonzerte, aber doch eine Einspielung, die Möglichkeiten der Interpretation bereits sehr weit ausschöpft. Und das bedeutet bei Künstlern dieser Kategorie eine Menge.
 
Die Referenz:
 
" …eine wahrlich faszinierende Neuaufnahme, die das Prädikat ‘neu’ nicht nur rein katalogmäßig, sondern aufgrund ihrer Bedeutung verdient." (P. Cosse, KLASSIK heute 4/1999)
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